Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#75)
Kapitel III
Keine zwei dieser Schreiberlinge stimmen in der Wiedergabe jener Inschrift überein, von der sie
behaupten, sie wäre über Christus ans Kreuz genagelt gewesen - und dabei war sie nicht einmal
besonders lang. Außerdem sagt Markus, er wurde um die dritte Stunde (das ist neun Uhr morgens)
gekreuzigt, während Johannes behauptet, daß es um die sechste Stunde (also zwölf Uhr mittags) war. *
Besagte Inschrift wird wie folgt wiedergegeben:
Matthäus - Das ist Jesus, der König der Juden
Markus - Der König der Juden
Lukas - Das ist der König der Juden
Johannes - Jesus von Nazareth, König der Juden
So trivial dieser Umstand sein mag, wir können aus ihm schließen, daß keiner dieser vier Herren
Verfasser, wer immer sie auch gewesen sein und wann immer sie wirklich gelebt haben mögen,
beim Ereignis selbst dabei war. Der einzige von den sogenannten Aposteln, der anscheinend
wirklich am Ort des Geschehens war, ist Petrus - und als man ihn der Gefolgschaft Jesu bezichtigt,
heißt es (Matthäus, Kapitel XXVI, Vers 74): "Da begann er (Petrus) wild zu fluchen und sagte: Ich
kenne diesen Menschen nicht!" Und nun sollen wir diesem selben Petrus glauben, den die
Evangelisten des Meineids für schuldig befunden haben: Aus welchem Grund - und wer kann es
von uns verlangen?
Die Begleitumstände der Kreuzigung werden in den vier Büchern völlig unterschiedlich dargestellt.
Im dem Matthäus zugeschriebenen Buch wird gesagt (Kapitel XXVII, Vers 45): "Und dann, von der
sechsten bis zur neunten Stunde, herrschte völlige Dunkelheit über der Erde." (Vers 51, 52, 53) "Und
siehe, der Vorhang im Tempel war in zwei Teile zerfetzt, von oben bis unten. Und die Erde bebte und
die Felsen barsten und die Gräber öffneten sich. Und die vielen Leiber der entschlafenden Heiligen erhoben
sich und verließen ihre Gräber nach seiner Auferstehung, sie gingen in die Stadt und wurden von vielen
gesehen." So weit der Bericht, wie in der schneidige Verfasser des Buches Matthäus gibt - freilich findet
er dabei keine Unterstützung von den Autoren der übrigen drei Bücher.
Der Autor des dem Markus zugeschriebenen Textes erwähnt in seiner Erzählung über die Kreuzigung
kein einziges Erdbeben, bei ihm bersten auch keine Felsen, noch öffnen sich die Gräber, und auch
die Toten gehen bei ihm nicht spazieren. Der Verfasser des Buches Lukas schweigt sich ebenso über diese
Punkte aus. Und wer immer das Buch Johannes geschrieben hat - bei ihm findet sich kein einziges Wort
über die Dunkelheit, nichts über den Vorhang im Tempel, über das Erdbeben, die Felsen, die Gräber
oder tote Spaziergänger - obwohl er sonst sehr detailliert über die Vorkommnisse von der Kreuzigung bis
zum Begräbnis Christi berichtet.
Nun, wenn diese Dinge wirklich stattgefunden haben und wenn die Autoren dieser vier Bücher
zur Zeit dieser Geschehisse gelebt haben und tatsächlich jene Personen waren, deren Namen sie sich
schmücken, nämlich die vier Apostel Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, dann wäre es ihnen
als echten Geschichtsschreibern und ganz ohne Mithilfe von Inspiration völlig unmöglich gewesen, diese
Ereignisse nicht aufzuzeichnen.
Handelte es sich bei den geschilderten Details nämlich um wahre Fakten, so wären sie viel zu bekannt
gewesen, um nie davon gehört zu haben - und viel zu wichtig, um stillschweigend übergangen zu werden.
Alle diese angeblichen Apostel mußten Zeugen des Erdbebens gewesen sein, hätte eines stattgefunden:
Einem Naturereignis kann sich niemand entziehen. Und das Öffnen der Gräber, die Auferstehung der Toten
und ihr Ausflug in die Stadt war doch um vieles bedeutsamer als ein gewöhnliches Erdbeben.
* Johannes zufolge wurde das Urteil erst gegen Mittag ausgesprochen, die Exekution konnte folglich
erst am Nachmittag stattfinden. Markus aber betont, daß die Kreuzigung um die dritte Stunde (also
um neun Uhr) stattgefunden hat. Kapitel XV, Vers 25. Johannes, Kapitel XIX, Vers 14. Der Autor.
Photo: Auf der Fiakerseite des Wiener Stephansdomes, 1010 Wien