Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#72)
Kapitel III
Nun zum Neuen Testament (a)
Das Neue Testament, so wird uns gesagt, basiert auf den Prophezeiungen des Alten. Wenn dem
so ist, wird es dem Schicksal seines Fundaments folgen.
Es ist ja nichts Außergewöhnliches daran, daß eine Frau vor der Hochzeit ein Kind gebiert und
ihr Sohn später hingerichtet wird, sei es auch ungerechtfertigter Weise, und also gibt es für mich
keinen Grund, nicht an die Existenz einer Frau wie Maria, eines Mannes wie Joseph und einer
Person wie Jesus zu glauben. Ihr Leben allein ist aber völlig gleichgültig und kann keinen
Anlaß zu Glaubensstreitigkeiten geben, es fällt unter die Kategorie: Mag sein - na und?
Es ist sehr wahrscheinlich, daß es solche Leute gegeben hat, oder wenigstens einige Personen,
deren Umstände zu den erzählten passen: Beinahe alle romantischen Geschichten lassen sich ja
auf aktuelle Begebenheiten der Zeit zurückführen - man nehme nur die Abenteuer des Robinson
Crusoe als Beispiel, von denen kein Wort wahr ist, die aber vom Leben des Alexander Selkirk
inspiriert worden sind.
Ich schere mich nicht um die Frage, ob die genannten Personen wirklich gelebt haben
oder nicht: Was mich stört, ist das Märchen um Jesus Christus, wie es im Neuen Testament erzählt
wird, sowie die wilde und phantastische Doktrin, die auf dieser Basis entwickelt worden ist. Die
Geschichte selbst ist, wenn man sie so nimmt, wie sie einem aufgetischt wird, auf blasphemische
Weise obszön.
In ihr wird von einer jungen Verlobten berichtet, die während der Zeit ihrer Verlobung von einem Geist,
um das in einfacher Sprache auszudrücken, vergewaltigt wird, und zwar unter dem pietätlosen
Vorwand, daß "der Heilige Geist über dich kommen und die Macht des Höchsten dich überschatten
solle." Joseph heiratet sie trotzdem, schläft mit ihr als seiner Frau und wird so zum Nebenbuhler
erwähnten Geistes. Das ist die Geschichte, wenn man deutlich und verständlich sprechen will.
Auf diese Weise erzählt muß wohl ein jeder Priester sich ihrer schämen.
Finden sich Obszönitäten in Glaubenssachen, wie immer sie verpackt sein mögen, so sind sie ein
deutliches Indiz für Märchen und Schwindel. Es ist für den ernsthaften Glauben an einen Gott
nötig, ihn nicht an Geschichten zu knüpfen, deren Interpretation ins Lächerliche führt. Die Geschichte
ist beim ersten Hinsehen von der selben Art wie die Mythen um Jupiter und Leda oder Jupiter und
Europa oder irgendeine andere Erzählung um die amourösen Abenteuer des Obergottes. Das zeigt auch,
wie schon im ersten Teil von "Das Zeitalter der Vernunft" bemerkt, daß das Christentum auf heidnischen
Grundlagen errichtet ist.
Da die historischen Teile des Neuen Testaments, wenigstens so weit sie Jesus Christus betreffen,
auf einen sehr kurzen Zeitraum - weniger als zwei Jahre - und auf dasselbe Land, beinahe
auf den selben Flecken, beschränkt sind, werden wir hier jene Widersprüche in Zeit, Ort und
Umständen, die schon die Falschheit des Alten Testaments zu beweisen halfen, in viel geringerem
Ausmaß antreffen. Im Vergleich zum Alten Testament ist das Neue wie eine Farce in einem einzigen Akt,
in dem es nicht viele Möglichkeiten gibt, die Einheiten von Ort und Zeit zu verletzen.
Und doch gibt es einige schreiende Widersprüche, die selbst unter Mißachtung jener faulen Basis aus
gefälschten Prophezeiungen dazu ausreichen werden, die Geschichte von Jesus Christus als einen
Schwindel zu entlarven.
Photo: An der Seitenwand der Wiener Jesuitenkirche in der Jesuitengasse, 1010 Wien