Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#65)
Kapitel I
Über das Alte Testament (z)
Von der Doppelzüngigkeit und falschen Prophezeierei des Jeremia seien hier nur zwei Beispiele
angeführt, ehe ich mich dem Rest der Bibel zuwende.
Es sieht im 38. Kapitel so aus, als hätte Zedekiah nach dem Jeremia gesandt, der ja im Gefängnis
saß, und als hätte im darauf folgenden privaten Gespräch der Prophet den König dazu gedrängt,
sich dem Feind zu ergeben. "Wenn", so sagt er im Vers 17, "du ohne zu zögern dich den Fürsten
des Königs von Babylon anschließt, so wird deine Seele leben", etc. Zedekiah war natürlich besorgt,
dieses Treffen könnte an die Öffentlichkeit gelangen, und so wendet er sich im Vers 25 an Jeremia:
"Wenn die Fürsten (die von Judäa) davon hören, daß ich mit dir gesprochen habe, und wenn sie
dich dann aufsuchen und dir sagen, du mögest ihnen berichten, was wir besprochen haben und
es nicht vor ihnen verbergen, und als Dankeschön dafür würden sie dich nicht ermorden, wenn sie
dann auch noch wissen wollen, was ich gesagt habe, dann antworte ihnen das Folgende: Ich habe
mich vor dem König hingekniet und ihn gebeten, er möge mir nicht befehlen, zum Hause Jonathans
zurückzukehren und dort zu sterben. Die Fürsten besuchten in der Tat den Jeremia und befragten ihn -
und er sagte ihnen Wort für Wort, was ihm der König befohlen hatte."
Dieser Mann Gottes, wie er genannt wird, konnte also ohne weiteres eine Lüge auftischen oder
die Wahrheit zumindest sehr stark verbiegen, wenn ihm das nützlich erschien. Denn er ist sicherlich
nicht zum Zedekiah gegangen, um vor ihm auf die Knie zu fallen, er ging hin, weil nach ihm gesandt
worden war, und er verwendete die Gelegenheit sofort, um dem König einzureden, es wäre klug,
sich dem Nebukadnezar zu unterwerfen.
Im 34. Kapitel findet sich eine Prophezeiung des Jeremia für den Zedekiah, und zwar in folgendem
Wortlaut (Vers 2): "So spricht der Herr: Siehe, ich werde diese Stadt in die Hände des Königs von
Babylon geben, und er wird sie niederbrennen. Auch du wirst ihm nicht entkommen, du wirst gefangen
genommen und vor sein Antlitz gebracht werden. Deine Augen sollen seine Augen sehen, und er wird
zu Dir von Mund zu Mund sprechen, und du wirst nach Babylon gehen. Aber höre die Worte Gottes,
oh Zedekiah, König von Judäa, das sagt der Herr von dir: Du wirst nicht vom Schwert getroffen
sterben, sondern in Frieden sollst du sterben, mit der Asche deiner Vorfahren, den Königen, die
vor dir herrschten. Man wird Weihrauch für dich verbrennen und dich betrauern und stöhnen: Oh Gott!
Denn ich habe das Wort gesprochen, sagt Gott."
Nun, anstelle der Zusammenkunft Auge in Auge und des persönlichen Gespräches von Mund zu Mund,
anstelle des friedvollen Todes und der Weihrauchverbrennungen wie bei den Bestattungen seiner
Väter (und immerhin rezitiert der Jeremia hier die Worte Gottes), trat genau das Gegenteil ein,
jedenfalls wenn man dem 52. Kapitel Glauben schenkt. Dort heißt es im Vers 10: "Und der König
von Babylon ermordete den Sohn des Zedekiah vor dessen Augen, dann stach er dem Zedekiah die
Augen aus, ließ ihn in Ketten legen und verschleppte ihn nach Babylon, wo er ihn bis zum Ende seiner
Tage in ein Gefängnis werfen ließ." Was sollen wir über diese Propheten sagen? Doch nur, daß sie
Schwindler und Lügner waren.
Dem Jeremia jedenfalls wurde kein Haar gekrümmt. Nebukadnezar schätzte ihn sehr und übergab
ihn der Obhut des Kapitäns seiner Wachmannschaft mit den Worten (Kapitel 39, Vers 12): "Nehmt diesen
und sorgt euch um sein Wohlergehen, fügt ihm kein Leid zu. Ja, erfüllt ihm seine Wünsche." Jeremia
schloß sich dem Nebukadnezar an und prophezeite für den König von Babylon gegen die Ägypter, die
zur Entsetzung von Jerusalem angerückt waren. Soviel zu einem weiteren Lügenpropheten und zu
dem Buch, das seinen Namen trägt.
Ich habe mich auf die beiden Bücher konzentriert, die dem Jesajah und dem Jeremia zugeschrieben
werden, weil diese beiden Propheten auch in den Büchern Könige und Chroniken erwähnt werden,
während man von den übrigen nichts liest. Daher werde ich mir nun nicht die Mühe machen, den
Rest jener Bücher zu behandeln, die den sogenannten Propheten zugeschrieben werden, sondern alles,
was ich zum Charakter jener Männer, die sich selbst zu Propheten stilisiert haben, in einer Reihe von
Bemerkungen zusammenfassen.