Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#63)
Kapitel I
Über das Alte Testament (x)
Nun aber weiter zum Buch Jeremia. Dieser Prophet, wie er genannt wird, lebte zur Zeit, als
Nebukadnezar Jerusalem belagerte, also während der Herrschaft des Zedekiah, des letzten
Königs von Judäa. Er stand unter dem Verdacht, ein Verräter zu sein und für Nebukadnezar
zu arbeiten. Alles, was wir über Jeremia wissen, weist auf einen Mann von äußerst zweifelhaftem
Charakter hin. In seiner Metapher vom Töpfer und vom Ton, Kapitel 18, biegt er seine Prognosen
so geschickt hin, daß ihm stets ein Hintertürchen offen bleibt, falls das Gegenteil von dem eintreten
sollte, was er vorhergesagt hat.
Im 7. und 8. Vers dieses Kapitels läßt er den Allmächtigen sagen "Dann werde ich etwas zu diesem
Volk sagen, zu diesem Königreich, um es auszureißen, es dem Erdboden gleichzumachen, um es
zu zerstören. Wenn aber dieses Volk, gegen das ich sprechen werde, vom Bösen sich abwendet, dann
will auch ich kein Unheil über es kommen lassen." Hier also die Klausel für den ersten Fall.
Nun zum zweiten, Verse 9 und 10: "Und wenn ich mich zu einem Volk oder Königreich äußere
und von ihm sage, es solle errichtet werden und wachsen, so werde ich auch von dieser Äußerung
Abstand nehmen, wenn nämlich das Volk in meinen Augen das Übel wählt und mir nicht gehorcht:
Dann wird es nichts von dem erhalten, was ich ihm versprochen habe." Soweit die Klausel für das
gegenteilige Verhalten - und wenn man sich an diese goldene Regel des Prophezeiens hielt, konnte
für einen Propheten nichts schief gehen, wie sehr sich auch der Allmächtige irren mochte. Dieses
absurde Trickserei und diese Art und Weise, vom Allmächtigen zu sprechen, als wäre er ein gewöhnlicher
Mensch, paßt nur zu gut zur Dummheit der Bibel.
Was die Echtheit des Buches angeht, muß man es bloß von vorne bis hinten lesen, um zu sehen,
daß Jeremia nicht der Autor ist, wenn er auch einige der Passagen wirklich selbst gesprochen haben
mag. Die geschichtlichen Teile, wenn man sie denn so nennen mag, sind äußerst konfus. Dieselben
Ereignisse tauchen mehrfach auf, wobei sie einander wenig ähneln und manchmal sogar direkt
widersprechen. Diese Unordnung reicht bis zum letzten Kapitel, wo die Geschichte, der ein Gutteil
des Buches gewidmet ist, wieder von vorne beginnt, aber dann plötzlich abbricht.
Das Buch ist anscheinend ein Medley von unzusammenhängenden Anekdoten über Personen und
Begebnisse jener Zeit, auf dieselbe grobe Art und Weise zusammengestellt, wie wenn man heute
einander widersprechenden Berichte aus Zeitungen ausschneiden und ohne Angabe von Datum,
Reihenfolge oder weiteren Erklärungen in ein Heft kleben würde.
Es scheint, so der Bericht im 37. Kapitel, daß Nebukadnezars Armee, die hier die Armee der Chaldäer
genannt wird, schon eine Weile vor Jerusalem gelegen hatte, daß sie aber, als man aber vom Anmarsch
der Ägypter unter ihrem Pharao vernahm, die Belagerung für eine Weile unterbrach und sich zurückzog.
Vielleicht sollte man, um diese verwirrenden Geschichten besser zu verstehen, an dieser Stelle erklären,
daß Nebukadnezar Jerusalem unter der Herrschaft des Jehoiakim, Vorgänger von Zedekiah, eingenommen
hatte - und daß es Nebukadnezar war, der Zedekiah als König oder besser Vizekönig eingesetzt hatte.
Die oben erwähnte zweite Belagerung war eine Folge der Rebellion Zedekiahs gegen Nebukadnezar.
Das könnte wenigstens teilweise erklären, warum Jeremia dem Verdacht des Verrats ausgesetzt war,
immerhin nennt er den Nebukadnezar im 10. Vers des 43. Kapitels einen Diener Gottes. Der 11. Vers
des 37. Kapitels lautet: "Und so geschah es, als die Armee der Chaldäer von Jerusalem abgelassen hatte,
da sie die Ankunft der Armee des Pharao fürchtete, daß Jeremia Jerusalem verließ, um - so dieser
Bericht - in das Land Benjamins zu gehen und sich dort von allen Menschen abzusondern. Als er an
den Toren Benjamins angelangt war, stieß er dort auf einen Wächter mit dem Namen Irijah, Sohn
des Shelemiah, Sohn des Hananiah, der ihn schnappte und ansprach: Du willst zu den Chaldäern
überlaufen! Jeremia aber sagte: Das stimmt nicht, ich werde nicht überlaufen." Jeremia wurde also
angehalten und angeklagt, und, nachdem man die Angelegenheit untersucht hatte, des Verrats
verdächtig in ein Gefängnis geworfen. Dort blieb er auch, wie der letzte Vers dieses Kapitels beschreibt.
Das nächste Kapitel berichtet von der Gefangenschaft des Jeremia, die freilich mit dem vorangegangenen
Bericht nichts zu schaffen hat und die Gründe für die Gefangenschaft ganz anderen Umständen
zuschreibt, die zu erfahren wir genötigt sind, in das 21. Kapitel zurückzublättern.
Dort heißt es nämlich, daß Zedekiah den Pashur, Sohn des Malchiah und den Zephaniah, Sohn des
Priesters Maaseiah, zu Jeremia gesandt hat, um ihn über die Vorhaben des Nebukadnezar auszufragen,
dessen Armee vor Jerusalem lag. Und Jeremia antwortet, Verse 8 und 9: "So spricht der Herr: Sehet,
ich bestimme euch euren Lebensweg und wie ihr sterben werdet: Wer in der Stadt bleibt, soll durch
das Schwert fallen, durch den Hunger und die Pest. Wer aber Jerusalem verläßt und sich den Chaldäern
anschließt, der soll leben und sein Leben dem Opfer weihen.
Dieses Interview oder diese Konferenz bricht am Ende des 10. Verses im Kapitel 21 abrupt ab, und
dieses Buch ist so chaotisch, daß wir sechzehn Kapitel überblättern müssen, um die Fortsetzung dieser
Geschichte zu erfahren, was uns an den Beginn des 38. Kapitels bringt.
Dieses 38. Kapitel wird eröffnet mit: "So also hörten Shephatiah, Sohn des Mattan, und Gedaliah,
Sohn des Pashur, und Jucal, Sohn des Shelemiah, und Pashur, Sohn des Malchiah (hier sind plötzlich
mehr Personen zugegen als im 21. Kapitel) den Propheten Jeremia sagen: So spricht der Herr: Sehet,
ich bestimme euch euren Lebensweg und wie ihr sterben werdet: Wer in der Stadt bleibt, soll durch das
Schwert fallen, durch den Hunger und die Pest. Wer aber Jerusalem verläßt und sich den
Chaldäern anschließt, der soll leben und sein Leben dem Opfer weihen (das waren die Worte der
Konferenz im 21. Kapitel). Also wenden sie sich an den Zedekiah und bitte ihn: "Wir flehen dich an,
verurteilen wir diesen Mann zum Tode, denn auf solche Art und Weise schwächt er die Krieger
in unserer Stadt und alle anderen Menschen, denen er derlei einredet. Dieser Mann ist nicht um
das Wohlergehen der Bürger besorgt, er will ihnen schaden." Im 6. Vers heißt es dann: "Also faßten
sie den Jeremia und warfen ihn in das Gefängnis von Malchiah."
Photo: Haupteingang der Johannes von Nepomuk Kirche, 1020 Wien