Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#61)

 

Kapitel I


Über das Alte Testament (v)

 

 

Wer immer sich die Mühe macht, das dem Jesajah zugeschriebene Buch zu lesen, wird darin eines

der wildesten und chaotischsten Machwerke finden, das je produziert worden ist. Es gibt keinen

Anfang, keine Mitte und kein Ende, und abgesehen von einer kurzen historischen Abhandlung

und wenigen historischen Skizzen in den ersten zwei, drei Kapiteln des Werkes ist es ein fortlaufender,

zusammenhangloser und bombastischer Wortschwall, voll von extravaganter Bildsprache, ohne jeden

praktischen Bezug und bar jeder Bedeutung. Keinem Schulbub ließe man solchen Mist durchgehen -

es ist eine Sorte von Literatur und schlechtem Geschmack, die man (wenigstens der Übersetzung nach

zu schließen) am ehesten als die Prosa von Wahnsinnigen bezeichnen möchte.


Der historische Abschnitt beginnt im 36. Kapitel und setzt sich bis zum 39. Kapitel fort. Er bezieht sich

auf Begebenheiten, die sich angeblich während der Herrschaftszeit des Hezekiah, König von Judäa,

zugetragen haben - also zu jener Zeit, in der auch Jesajah gelebt hat. Dieses historische Fragment

beginnt abrupt und endet auf ebensolche Weise. Es verbindet diese Kapitel nichts mit dem

Vorangestellten, nichts mit dem, was darauf folgt, noch irgendetwas mit dem Rest des Buches.


Es ist sogar wahrscheinlich, daß Jesajah diese Kapitel selbst geschrieben hat, immerhin war er Teil

der geschilderten Handlung. Freilich, abgesehen von diesem Abschnitt finden sich kaum zwei Kapitel, die

einen Zusammenhang zueinander aufweisen. Eines heißt "Ausspruch über Babylon", ein anderes

"Ausspruch über Moab", ein weiteres "Ausspruch über Damaskus", wieder ein anderes "Ausspruch über

Ägypten", ein nächstes "Ausspruch über die Wüste am Meer", noch eines "Ausspruch über das Tal

der Vision" - so wie man sagen würde "Die Geschichte des Ritters vom Brennenden Berge", 

"Die Geschichte von Aschenbrödel oder Der gläserne Schuh", "Die Geschichte von Schneewittchen",

etc. etc.


Ich habe ja bereits anhand der letzten beiden Verse Chronik und der ersten drei Verse Ezra gezeigt,

wie die Herausgeber der Bibel die Werke verschiedener Autoren miteinander vermischten - allein

schon ein ausreichender Grund, die Authentizität eines Buches zu zerstören, von dem es augenscheinlich

ist, daß die Herausgeber von den Autoren keine Ahnung hatten. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür

liefert auch das Buch Jesajah - das Ende des 44. und der Anfang des 45. Kapitels konnten keineswegs

von Jesajah geschrieben worden sein, sondern nur von Leuten, die mindestens hundertfünfzig Jahre

später gelebt haben.


Diese Kapitel stehen als Kompliment an Cyrus da, der den Juden ihre Rückkehr aus der babylonischen

Gefangenschaft nach Jerusalem erlaubt hatte, um ihnen die Renovierung der Stadt und des Tempels

zu ermöglichen, wie es in Ezra heißt. Der letzte Vers des 44. und der erste Vers des 45. Kapitels lauten:

"Der zu Cyrus sagt: Er ist mein Hirte, und was mir Freude macht, wird er tun. Er wird sogar zu

Jerusalem sagen: Du sollst wieder errichtet werden - und zum Tempel: Dein Grundstein soll gelegt werden.

So sprach der Herr zu seinem Gesalbten, dem Cyrus, dessen rechte Hand er geführt hat, um ihm die

Nationen zu unterwerfen: Und ich werde die Könige entwaffnen und die zweiflügeligen Tore öffnen -

kein Tor wird verschlossen sein. Ich werde Dir vorangehen.." etc.


Wie dreist doch die Kirche und die priesterliche Ignoranz sind, uns das als die Schriften von Jesajah

aufzuschwindeln, wenn doch Jesajah der Chronologie zufolge kurz nach der Zeit des Hezekiah gestorben

ist, also 693 Jahre vor Christus, das Dekret des Cyrus aber nicht vor 536 ausgesprochen worden war,

also erst 162 Jahre später.


Ich unterstelle nicht, daß die Herausgeber der Bibel sie selbst geschrieben haben, ich nehme vielmehr

an, daß sie sich einige unzusammenhängende und anonyme Essays der Zeit geschnappt und

sie unter dem Namen veröffentlicht haben, der ihren Zwecken am ehesten entsprochen hat. Sie haben

den späteren Schwindel durch die Kirche vorbereitet, was soviel ist, wie die Kirche dazu eingeladen

zu haben, denn soviel mußten sie schon vorhersehen können.


Wenn wir sehen, wie die ausgeklügelte Handarbeitskunst der Schriftgelehrten jede Zeile dieses

romantischen Buches im Stil von Schulbuben so hinbiegt, daß am Ende die monströse Idee zu stehen

kommt, der Sohn Gottes sei von einem Geist im Beischlaf mit einer Jungfrau gezeugt worden, so gibt

es keinen Betrug, dessen sie sich nicht verdächtig machen. Jede Phrase, jede geschilderte Begebenheit

atmet den barbarischen Geist abergläubischen Zwanges und wird mit einer Bedeutung beladen, die

sie unmöglich haben konnte.

 


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