Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#60)

 

Kapitel I


Über das Alte Testament (u)

 

 

Siebenhundert Frauen und dreihundert Konkubinen übertreffen wohl alles, was wir bisher

in der Bibel kennen gelernt haben, und obwohl das den Anschein eines lustvollen Lebens

haben mag, zerstört es doch das Glück der Zuneigung dadurch, daß diese sich nicht auf einen

festen Punkt konzentrieren kann. Geteilte Liebe ist niemals glücklich. Das aber war der Fall

des Salomo, und wenn er das mit all seiner angeblichen Weisheit nicht gleich von vorneherein

erkennen konnte, verdient er wohl ganz ohne Mitleid alle Demütigungen, die ihm später widerfahren sind.


Aus dieser Perspektive ist seine Predigerei gänzlich unnötig - wenn man seinen Fall kennt, weiß

man sofort um die Konsequenzen. Die siebenhundert Frauen und dreihundert Konkubinen sagen

ja schon alles - wie unnötig, danach noch davon zu faseln, wie alles eitel sei und eine Irritation des Geistes:

Es ist unmöglich, aus der Gesellschaft jener Glück zu beziehen, die wir ihres eigenen Glücks beraubt haben.


Um im Alter glücklich zu sein, müssen wir uns mit Gegenständen vertraut machen, die unser Denken

durch unser gesamtes Leben begleiten können, und alles übrige zu seiner Zeit akzeptieren.

Der Mann der Lust wird im Alter ein miserables Leben haben, und wer sich ein liebes langes

Leben lang mit seiner Arbeit abrackert, dem wird es wenig besser ergehen. Demgegenüber ist das Studium

der Naturphilosophie und der Mathematik und Mechanik eine nicht versiegende Quelle ruhigen Genusses.

Im Widerspruch zu den düsteren Dogmen der Priester und deren Aberglauben ist genau das

Studium dieser Dinge ein Studium der wahren Theologie: Es macht die Menschen mit dem Schöpfer

vertraut und ihn bewundern - denn die Prinzipien der Wissenschaft finden sich in der Schöpfung, sie

sind unveränderlich und göttlichen Ursprungs.


Diejenigen, die Benjamin Franklin noch gekannt haben, werden sich daran erinnern, wie jugendlich

frisch er stets gewesen ist - und wie gelassen und heiter. Die Wissenschaft, die niemals graue Haare

bekommt, war seine Freundin. Er war niemals ohne ein Ziel - wenn wir aufhören, ein Ziel zu haben,

gleichen wir den Invaliden im Krankenhaus, die auf ihren Tod warten.


Die Lieder des Salomo sind liebestrunken, ja teilweise verrückt - und doch hat sie ein verrunzelter

Fanatismus göttlich genannt. Die Bibelbastler haben diese Lieder im Anschluß an das Buch Ecclesiastes

eingefügt, und die Bibelchronologen haben dem Buch als Entstehungszeit die Ära um 1014 vor der

Geburt Christi zugewiesen, eine Zeit also, in welcher derselben Chronologie zufolge Salomo gerade einmal

neunzehn Jahre alt war und soeben damit begonnen hatte, seinen Serail von Frauen und Konkubinen

zu errichten.


Die Bibelbastler und Chronologen hätten die Sache schlauer angehen und entweder die

Entstehungszeit nicht erwähnen sollen - oder eine Entstehungszeit wählen sollen, die nicht mit

der unterstellten Göttlichkeit der Lieder in Konflikt geraten wäre: Salomon war zu dieser Zeit

ja in den Flitterwochen seines tausendfältigen Lotterlebens.


Es hätte ihnen auch auffallen sollen, daß, da er das Buch Ecclesiastes lange nach den Liedern

geschrieben hat - wenn er es überhaupt selbst geschrieben hat - und in diesem ausruft, wie alles

eitel und eine Irritation des Geistes ist, er in diesem Dictum seine Lieder inkludiert haben könnte. Das

ist umso wahrscheinlicher, als er - oder irgendjemand in seinem Namen - im Kapitel II, Vers 8 von

Ecclesiastes sagt: "Ich ließ also Sänger und Sängerinnen kommen," (gewiß, um die Lieder zu singen)

"und mit ihnen Instrumente aller Art; und, siehe (Vers 11), alles ist eitel und eine Geistesverwirrung."

Die Bibelbastler haben ihre Arbeit aber nur zur Hälfte erledigt, denn sie hätten uns doch wenigstens

die Noten zu den Liedern mitliefern sollen, sodaß auch wir in den Genuß kämen, sie nachzusingen.


Die Bücher der Propheten füllen den Rest der Bibel. Sechzehn an der Zahl beginnen sie mit dem Buch

Jesajah und enden mit dem Buch Malachi. Ich habe dazu schon einige Bemerkungen im Zuge der

Abhandlung über die Bücher Chroniken gemacht. Von diesen sechzehn Propheten, die außer den letzten

dreien alle zur Zeit gelebt haben, in der auch die Bücher Chroniken und Könige geschrieben worden

sind, werden nur zwei, nämlich Jesajah und Jeremias, in den Texten dieser Bücher erwähnt. Ich

beginne also mit diesen beiden und werde in einem anderen Teil dieses Werkes nachholen, was zum

allgemeinen Charakter der Propheten zu sagen ist.

 


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