Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#59)
Kapitel I
Über das Alte Testament (t)
Ich setze mit dem Buch Psalmen fort - ohne aber viel Zeit darauf zu verwenden, denn das
ist nicht nötig. Einige dieser Psalmen sind moralisch in Ordnung, andere hingegen äußerst
rachsüchtig, und zu weiten Teilen handeln sie von Angelegenheiten, die für die damalige
jüdische Nation von spezieller Bedeutung gewesen sein mögen - wir heute haben damit aber
nichts zu schaffen.
Es ist allerdings entweder ein Fehler oder Betrug, sie die Psalmen Davids zu nennen.
Denn es handelt sich, so wie bei Liederbüchern heutzutage, um eine Sammlung verschiedener
Liedermacher aus verschiedenen Zeiten. Der 137. Psalm etwa konnte nicht viel früher als 400 Jahre
nach der Zeit des David verfaßt worden sein, denn er wurde im Andenken an ein Ereignis -
die Gefangenschaft der Juden in Babylon - geschrieben, das erst nach David stattgefunden hat.
"An die Ufer Babylons setzten wir uns; ja, dort weinten wir, wenn wir uns an Zion erinnerten.
Wir hingen die Harfen in die Äste der Weiden, denn unsere Entführer wollten von uns ein Lied,
und sie sagten: Singt uns eines der Lieder Zions." So wie heute jemand zu einem Amerikaner
oder Engländer oder Franzosen sagen würde: "Sing uns ein amerikanisches, ein englisches, ein
französisches Lied."
Diese Bemerkung (wie auch jede andere in diesem Werk) hat keinen anderen Zweck, als wieder
und wieder zu beweisen, welchem Schwindel die Welt aufsitzt, wenn sie von den Autoren der
Bibel spricht.
Man schert sich keinen Deut um die Zeit, den Ort und die Umstände, noch um die Namen der
Personen, denen diese Bücher zugeschrieben werden: Wenn wir daran glauben, daß sie tatsächlich
die Autoren dieser Bücher sind, dann können wir genauso gut an die Möglichkeit glauben, daß jemand
in der Prozession zum eigenen Begräbnis mitspaziert.
Das Buch Sprichwörter. Es handelt sich, wie bei den Psalmen, um eine Sammlung von Schriften,
allerdings nicht von jüdischen Autoren, wie ich schon in den Kommentaren zum Buch Hiob
aufgezeigt habe - abgesehen davon, daß einige dem Salomon zugeordneten Sprichwörter erst etwa
zweihundertfünfzig Jahre nach dem Tod des Salomo entstanden sind. So heißt es zum Beispiel im 1. Vers
des 25. Kapitels: "Dies sind nun ebenso die Sprichwörter des Salomo, von den Mannen des Hezekias,
König der Juden, abgeschrieben."
Dumm nur, daß zwischen dem Tod des Salomo und der Zeit des Hezekias zweihundertfünfzig Jahre
liegen. Ein Mann muß nur berühmt sein und weltbekannt, schon werden ihm Sachen zugeordnet,
die er nie gesagt und nie getan hat - und das ist wahrscheinlich auch dem Salomo passiert. Es scheint,
die Produktion von Sprichwörtern war eine Modeerscheinung der Zeit, so wie man heute Comics bastelt
und dann die Autorenschaft Leuten zuschiebt, die von den Heften nie auch nur eine Seite zu Gesicht
bekommen haben.
Auch das Buch Ecclesiastes oder Priester wird dem Salomo zugeschrieben, das aber mit gutem Grund:
Es könnte nämlich wahr sein - enthält es doch nichts anders als die etwas eigenwilligen Betrachtungen
eines ausgebrannten Lüstlings, wie Salomo einer war, der sich an Szenen erinnert, die er
nun nicht mehr länger zu genießen fähig ist - und darum hinausplärrt: "Oh wie eitel ist das alles!"
Viele der Metaphern und Stimmungsbilder sind schwer verständlich, sehr wahrscheinlich aufgrund
der Übersetzung. Was man aber liest, ist genug, um zu zeigen, wie pointiert das Original gewesen
sein muß. Was uns vom Charakter des Salomo mitgeteilt wird, ergibt das Bild eines gewitzten,
großmäuligen, liederlichen und zuletzt melancholischen Menschen. Er lebte ein flottes Leben und
starb, müde vom weltlichen Treiben, im Alter von achtundfünfzig Jahren.
Photo: Ausgang der Schottenkirche im 1. Wiener Bezirk