Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#56)
Kapitel I
Über das Alte Testament (q)
Eine Beobachtung über das Buch Chronik habe ich noch zu machen, ehe ich zu den verbleibenden
Büchern der Bibel gelange.
In meinen Ausführungen zum Buch Genesis habe ich eine Passage aus dem 36. Kapitel zitiert,
Vers 31, die sich ganz offensichtlich auf eine Zeit nach dem Beginn der Königsherrschaft über die
Kinder Israels bezieht. Ich habe auch gezeigt, daß diese Passage Wort für Wort gleich ist wie Chronik,
Kapitel 1, Vers 43. Dort findet es sich in der korrekten Reihenfolge und im Einklang mit der Geschichte,
wie es in Genesis nicht der Fall ist - was darauf hindeutet, daß dieser Vers und große Teile des ganzen
Kapitels in Genesis aus Chronik übernommen worden sind. Woraus folgt, daß das Buch Genesis,
obwohl an erster Stelle in der Bibel und dem Moses zugeschrieben, von einer unbekannten Person fabriziert
worden ist, lange nachdem das Buch Chronik schon erschienen war - also mindestens 860 Jahre
nach dem Ableben des Moses.
Der vorzubringende Beweis ist schlicht und zweiteilig. Erstens gibt es den zeitlichen Bezug, der die
Passage von Genesis in die Zeit von Chronik verlegt. Und zweitens ist eben dieses Buch Chronik
erst 860 Jahre nach dem Tod Moses verfaßt worden. Um diese Zahl zu beweisen, müssen wir nur ins
dritte Kapitel Chronik, Vers 13 schauen, wo der Autor beim Aufzählen der Genealogie von Davids
Nachfolgern den Zedekias erwähnt. Während der Herrschaft des Zedekias hat Nebudkadnezar Jerusalem
erobert, 588 Jahre vor Christus, und also mehr als 860 Jahre nach Moses.
Diejenigen, die so abergläubisch mit dem Alter der Bibel und speziell der Bücher Moses geprahlt haben,
haben dies ohne genaue Untersuchung getan - so wie leichtgläubige Menschen einander Geschichten
ungeprüft weitererzählen. Wie die Sache steht, dürfte das erste Buch der Bibel etwa 300 Jahre
jünger als die Werke Homers sein und ungefähr so alt wie die Fabeln Äsops.
Ich möchte damit nicht die Moralität des Homer herausstreichen, im Gegenteil: Ich finde, seine
Werke transportieren falsche Vorstellungen von Ruhm und inspirieren ein schädliches und unmoralisches
Verständnis von Ehre. Was den Äsop angeht, so ist die Moral im Allgemeinen in Ordnung, aber die
Geschichten sind grausam - und die Grausamkeit der Geschichte richtet, gerade bei Kindern, größeren
Schaden an als eine gute Moral zum Urteilsvermögen beiträgt.
Könige und Chronik sind also verworfen, was kommt als nächstes? Das Buch Ezra.
Wir brauchen ja nur die drei ersten Verse von Ezra mit den zwei letzten Versen von Chronik
vergleichen, um zu sehen, auf welch schlampige Art und Weise dieses angebliche Wort Gottes
zusammengestoppelt worden ist und wie unklar die Autorenschaft der einzelnen Bücher bleibt.
Welche Schnipselei und Hin- und Herschieberei hat denn bewirkt, daß die ersten drei Verse in Ezra
genau die gleichen sind wie die letzten zwei in Chronik? Entweder konnten sich die Autoren nicht an
ihre eigenen Werke erinnern, oder die Herausgeber kannten ihre Autoren nicht.
Der letzte Vers in Chronik hört abrupt auf, inmitten der Phrase, mit dem Wort "hinauf", ohne
aber zu sagen, wohin hinauf. Dieses abrupte Ende und das Auftauchen derselben Verse an
verschiedenen Stellen zeigen schon mehr als deutlich, mit welcher Ignoranz und Schlampigkeit
die Bibel gemacht worden ist - und daß die Herausgeber sich ebenso wenig mit dem Stoff auskannten
wie wir Anlaß haben, ihn zu glauben.*
Das einzige, was halbwegs sicher ist am Buch Ezra, ist seine Entstehungszeit, die in die Zeit nach
der Rückkehr der Juden aus Babylon zu legen ist, also etwa 536 Jahre vor Christus. Ezra, der
den jüdischen Kommentatoren gemäß dieselbe Person wie Esdras aus den Apokryphen ist, war wohl
einer der Heimkehrer, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß dieses Buch wirklich von ihm stammt.
Nehemias, dessen Buch auf das Ezras folgt, war wahrscheinlich ein anderer Rückkehrer, und er
hat möglicherweise tatsächlich selbst das Buch geschrieben, das seinen Namen trägt. Aber diese
Bücher sind für uns heute völlig belanglos, außer vielleicht für die Juden als Teil ihrer
Geschichtsschreibung. Sie enthalten ungefähr soviel vom Wort Gottes wie eine Geschichte
Frankreichs oder Rapins "Geschichte von England" oder die Geschichte eines beliebigen anderen
Landes.
* Mir sind im Zuge der Arbeit natürlich viele unsinnige, unzusammenhängende Passagen aufgefallen,
die ich jedoch nicht hier anführe, weil sie keinen ausreichenden Einfluß auf meine Argumentation haben.
Etwa im 1. Buch Samuel, Kapitel 13, Vers 1, wo es heißt: "Saul regierte ein Jahr. Und als er zwei
Jahre über Israel geherrscht hatte, wählte er 3000 Männer aus" etc. Der erste Teil in diesem Vers,
in dem Saul ein Jahr regierte, ist gänzlich sinnlos, denn wir erfahren nicht, was Saul in diesem Jahr
angestellt hat oder was am Ende des Jahres passiert ist. Abgesehen davon ist es absurd, zu sagen,
er regierte ein Jahr, wenn er im nächsten Satz zwei Jahre regiert hat. Wenn er zwei Jahre regiert
hat, ist es klar, daß er auch ein Jahr regiert haben muß.
Eine andere Begebenheit ereignet sich in Josua, Kapitel 5, wo wir von einem Engel erfahren
(so nennt ihn jedenfalls die Inhaltsangabe am Beginn des Kapitels), der dem Josua erscheint.
Die Geschichte endet plötzlich und ohne Schlußfolgerung. Wie geht die Geschichte? So, Vers 13:
"Und es geschah, daß Josua kurz vor Jericho seine Augen zum Himmel erhob und, siehe da, über
ihm stand ein Mann mit gezogenem Schwert. Josua ging auf ihn zu und fragte ihn: Freund oder Feind?"
Vers 14, "Und er sagte: Nein, aber als Kapitän der Heerscharen Gottes bin ich hier. Und Josua stürzte
mit seinem Gesicht zu Boden, begann zu beten und sagte zu ihm: Was befiehlt mein Herr seinem
Diener?" Vers 15, "Und der Kommandant der Heerscharen Gottes sagte zu Josua: Zieh´ dir die
Schuhe aus. Der Platz, auf dem du stehst, ist geheiligt. Und Josua gehorchte."
Und dann? Nichts dann. Hier ist die Geschichte aus, und das Kapitel zu Ende.
Entweder ist die Geschichte nach der Hälfte abgebrochen, oder sie stammt aus der Feder eines
jüdischen Komikers, um die angebliche Mission des Josua zu verspotten. Und die Herausgeber
der Bibel haben das nicht kapiert und die Geschichte als ernsthafte Angelegenheit weitergegeben.
Als ein Stück Spott und Hohn ist die Geschichte recht gut: Sie führt zunächst pompös einen Engel
in die Handlung ein, der in Menschengestalt und mit blankem Schwert erscheint und vor dem
Josua sofort in die Knie geht, um ihn anzubeten (nicht ganz im Einklang mit dem zweiten Gebot) -
und dann endet sie damit, daß dieser hochrangige Botschafter Gottes, direkt aus dem Himmel auf
die Erde entsandt, dem Josua mitteilt, er möge sich die Schuhe ausziehen. Er hätte ihm gleich auch
noch dazu sagen sollen, sich die Hose aufzukrempeln.
Es ist aber sicher, daß die Juden nicht all dem Folge leisteten, was ihnen ihre Führer aufgetragen haben,
wie es die höfliche Weise suggeriert, in der sie über den Moses reden, als der gerade auf seinem Berg
unterwegs war: "Was diesen Moses angeht - was kümmert´s uns, was aus ihm geworden ist?"
Exodus, Kapitel 32, Vers 1. - Der Autor.