Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#5l)
Kapitel I
Über das Alte Testament (l)
Im ersten Kapitel Richter verkündet der Autor zunächst den Tod des Josua und fährt dann damit fort,
von den Vorfällen zwischen den Kindern Judahs und den Eingeborenen des Landes Kanaan zu erzählen.
An dieser Stelle stellt der Verfasser, nachdem er sehr plötzlich im 7. Vers Jerusalem erwähnt, wie in
einer Erklärung im Vers 8 fest: "Die Kinder von Judah hatten um Jerusalem gekämpft und es
eingenommen." Folglich kann das Buch nur nach der Einnahme von Jerusalem geschrieben worden
sein. Der Leser wird sich erinnern, was ich weiter oben aus dem 15. Kapitel Josua, Vers 63, zitiert habe,
wo es heißt: Die Jebusiten wohnen mit den Kindern Judahs bis zum heutigen Tage in Jerusalem. Was
soviel heißt wie: Bis zu dem Tag, an dem das Buch Josua geschrieben worden ist.
Die Beweise, die ich bisher dafür angeführt habe, daß die behandelten Bücher keineswegs von jenen
verfaßt worden sind, denen sie zugeschrieben werden, sondern erst viele Jahre nach ihrem Tod -
wenn sie denn je wirklich gelebt haben - sind schon so erdrückend, daß ich mir leisten kann, dieser
Passage weniger Gewicht zu geben, als es mir möglich wäre. Fest steht, sofern man an die Bibel als
Geschichtsbuch glaubt, daß Jerusalem erst unter David eingenommen worden ist. Folglich können die
Bücher Josua und Richter erst nach dem Beginn der Herrschaft Davids geschrieben worden sein, die 370
Jahre nach dem Tod des Josua eingesetzt hat.
Der Name jener Stadt, die späterhin als Jerusalem bekannt werden sollte, war ursprünglich Jebus
oder Jebusi, Hauptstadt der Jebusiten. Der Bericht über die Einnahme dieser Stadt durch David wird
im 2. Buch Samuel, Kapitel 5, Vers 4 etc. gegeben, und noch einmal im Buch der 1. Chronik, Kapitel
14, Vers 4 etc. Es findet sich in der gesamten Bibel keine andere Stelle, die eine andere Einnahme
von Jebusi vor dieser Zeit erwähnt, noch gibt es Stellen, die eine solche Annahme zuließen.
Weder in Samuel noch im Buch Chronik wird davon berichtet, wie sie Männer, Frauen und Kinder
brutal niedermetzelten und keine Menschenseele am Leben ließen, wie es von anderen Eroberungen
stets heißt. Das deutet darauf hin, daß Jerusalem kapituliert hat und die Jebusiten auch nach der
Kapitulation in der Stadt weiterleben konnten. Mithin legt die Phrase Die Jebusiten wohnen mit den
Kindern Judahs bis zum heutigen Tage in Jerusalem eine Zeit nach der Eroberung durch David
fest.
Ich habe nun gezeigt, daß keines der Bibelbücher, von Genesis bis Richter, glaubwürdig ist, und gelange
nun zum Buch Ruth, eine nutzlose, hingepfuschte, dumm (niemand weiß, von wem) erzählte Geschichte
über ein herumstromerndes Landmädel, das schlau genug ist, mir seinem Cousin Boaz unter die Decke
zu kriechen. Ein hübscher Kram - und so etwas wird das Wort Gottes genannt! Es ist aber immer noch
eines der besseren Bücher der Bibel, denn immerhin kommt es ohne Mord und Räuberei aus.
Weiter geht es mit den beiden Büchern Samuel, von denen wieder zu zeigen sein wird, daß sie nicht
von Samuel stammen, sondern aus einer Zeit lange nach dem Tod desselben: Sie sind also, wie alle
bereits genannten Bücher, anonym und unglaubwürdig.
Um sich davon zu überzeugen, daß die Bücher erst lange nach dem Tod des Samuel - folglich nicht
von ihm selbst - geschrieben worden sind, muß man nur den Bericht lesen, den der Verfasser von
Saul gibt, der auszieht, seines Vaters Esel zu suchen. Es gibt dort ein Interview mit Samuel, den Saul
aufsucht, um etwas über die Esel herauszufinden, so wie es gewiß auch heute noch Dummköpfe gibt, die
einen Zauberer aufsuchen, wenn sie etwas verloren haben.
Der Verfasser erzählt diese Geschichte von Saul, Samuel und den Eseln nicht als eine Begebenheit
der jüngsten Vergangenheit, sondern als alte Geschichte aus der Zeit des vorgeblichen Buchautors
(also Samuels). Er verwendet nämlich Ausdrücke und Wörter, wie sie zur Zeit Samuels in Gebrauch
waren, fühlt sich aber doch verpflichtet, die Geschichte auch noch mit anderen Ausdrücken
und Wörtern, wie sie zur Zeit des Verfassers gang und gäbe waren, zu erläutern.
Samuel wird im ersten dieser Bücher, Kapitel 9, der Seher genannt. Unter diesem Titel wird er auch
von Saul gesucht, Vers 11: "Und als sie (Saul und sein Diener) hügelaufwärts zur Stadt gingen,
trafen sie auf junge Mädchen, die ausgegangen waren, Wasser zu holen. Und sie sagten zu ihnen:
Ist der Seher hier?" Saul geht dann in die angewiesene Richtung, trifft auf Samuel, ohne ihn
aber zu erkennen, und fragt, Vers 18: "Bitte sag mir, wo das Haus des Sehers ist; und Samuel
antwortet dem Saul: Ich bin der Seher."
Der Erzähler des Buches Samuel berichtet von diesen Fragen und Antworten im Stil jener Zeit,
in der die Handlung spielt. Da aber dieser Stil zur Zeit des Erzählers nicht mehr im Gebrauch war,
erachtet der Erzähler es für notwendig, einige der Ausdrücke zu erklären, um die Geschichte
verständlich zu machen. Das geschieht im 9. Vers, wo es heißt: "Zu Vorzeiten, wenn ein Mann
in Israel etwas von Gott wissen wollte, sprach er: Komm, laß uns zum Seher gehen. Denn was heute
Prophet heißt, wurde zu Vorzeiten Seher genannt."
Das belegt wie gesagt, daß die Geschichte von Saul, Samuel und den Eseln zur Entstehungszeit
des Buches Samuel schon eine alte Geschichte gewesen sein muß: Also kann Samuel nicht der
Autor des Buches Samuel sein - und damit ist das Buch Samuel nicht authentisch.
Photo: Turmspitzen der Votivkirche in Wien, von der Leopoldstadt