Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#71)
Kapitel I
Über das Alte Testament (af)
Ich habe nun über die poetischen Abschnitte der Bibel, die unter dem Titel Prophezeiungen
erschienen sind, sowohl im ersten Teil von "Das Zeitalter der Vernunft" als auch hier im zweiten
geschrieben, und habe wiederholt, daß das Wort Prophet ein Bibelwort für einen Poeten ist. Die
hochtrabenden Metaphern dieser Dichter, die im Lauf der Zeit und unter geänderten Umständen
unverständlich geworden sind, wurden lächerlicherweise zu jenen Dingen emporstilisiert, die man nun
Prophezeiungen nennt - um sie einem Zweck unterzuordnen, der ihren Autoren völlig fremd war.
Wenn nun ein Priester irgendeine dieser Passagen zitiert, interpretiert und enträtselt er sie ganz
nach seinem Belieben und verkauft diese Interpretation der Schar seiner Andächtigen als die Aussage
ihres angeblichen Autors. Die Hure Babylons war schon immer die gemeinsame Hure der Priesterschaft,
und jeder Priester hat die jeweils anderen beschuldigt, mit dieser Dirne zu leben. So ausgezeichnet
stimmen sie in ihren Interpretationen überein.
Es bleiben nur noch ein paar Bücher von denen, die man die unbedeutenden Propheten nennt:
Da ich aber gezeigt habe, daß schon die bedeutenden ein einziger Schwindel sind, wäre es doch
feige, die Grabesruhe der kleineren zu stören. Wir lassen sie also weiterschlafen, wohl behütet in
den Armen ihrer Ammen, der Priester. Vergessen wir beide.
So bin ich nun durch das Alte Testament spaziert, wie ein Mann mit seiner Axt über der Schulter durch
einen Wald geht, um Bäume zu fällen. Hier liegen sie. Mögen sie die Priester, wenn sie es können,
wieder aufrichten. Vielleicht stecken sie die Stämme ja in den Boden, wachsen werden sie nicht mehr.
Ich wende mich nun dem Neuen Testament zu.
Photo: Bei der Dominikanerkirche in der Predigergasse, 1010 Wien. Die Sonntagsausgabe der "Krone"
vom 19.12.2010 titelt mit: "Unsere Tiere bitten wieder!"