Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#68)
Kapitel I
Über das Alte Testament (ac)
Ezekiel und Daniel wurden in der ersten Gefangenschaft nach Babylon verschleppt, das war
noch zur Zeit des Jehojakim, neun Jahre vor der zweiten Gefangenschaft während der Herrschaft
des Zedekiah.
Die Juden hatten immer noch eine große Arme vor Jerusalem stehen. Und da die Annahme nur natürlich
ist, Männer in der Situation eines Daniel oder Ezekiel würden stets über ihre eigene Befreiung und die
ihrer Heimat nachdenken, kann man vernünftigerweise vermuten, jene Berichte von Träumen und
Visionen seien nichts anderes als eine Art Geheimsprache, um diese Ziele zu erreichen. Wenn aber diese
Bücher nicht so interpretiert werden können, so handelt es sich bloß um Geschichten, Träumereien
und Nonsens - oder zumindest eine phantasiereiche Art und Weise, sich Langeweile in der Gefangenschaft
zu vertreiben: Ich glaube an die oben angeführte Interpretation.
Ezekiel beginnt mit einer Vision über Cherubim und über ein Rad in einem Rad, das er beim Fluß
Chebar gesehen haben will, im Land seiner Gefangenschaft. Könnte man nicht annehmen, die
Cherubim bezeichneten den Tempel von Jerusalem, wo solche Figuren von Cherubim aufgestellt
waren? Und wäre es nicht möglich, hinter der Wendung "Rad im Rad" (die oft ein politisches Projekt
bezeichnet hat) die Idee der Wiedereroberung Jerusalems zu sehen?
Im zweiten Teil seines Buches träumt er sich nach Jerusalem und in den Tempel, wo er sich an
das Gesehene beim Fluß Chebar erinnert und (Kapitel 43, Vers 3) sagt, dieser Traum erinnere ihn
an die Vision vom Fluß Chebar. Woraus man schließen kann, daß alle diese Visionen sich lediglich
mit der Rückeroberung Jerusalems beschäftigen.
Die romantischen Interpretationen und Ausdeutungen - so wild wie die Träume und Visionen,
die sie zu erklären suchen - von Kommentatoren und Priestern, die diese Bücher solcherart in
das verwandelt haben, was nun Prophezeiungen heißt, deren Bedeutung sie auf eine Zeit
und auf Umstände hingedreht haben, die von der Zeit der Entstehung weit entfernt war, ja bis in
unsere Zeit zu reichen scheint, zeigen den Schwindel oder die extreme Narrheit, derer die
Gläubigkeit und die Priester fähig sind.
Was könnte denn absurder sein als die Annahme, Leute wie Daniel und Ezekiel, deren Land von
den Feinden überrannt und besetzt worden war, deren Freunde und Verwandte in Gefangenschaft
im Ausland lebten - oder in Sklaverei zu Hause, wenn sie nicht massakriert worden waren oder ihnen
ein solches Schicksal unmittelbar bevorstand - was also wäre absurder, sage ich, als die Annahme,
diese beiden hätten nichts besseres zu tun gehabt, als sich damit auseinanderzusetzen, was fremden
Ländern mehrere tausend Jahre nach ihrem eigenen Tod zustoßen könnte. Gleichzeitig ist doch nichts
natürlicher, als daß sie sich damit beschäftigen sollten, wie sie aus ihrer Gefangenschaft entkommen
und Jerusalem zurückerobern könnten: Darum ist auch nichts naheliegender als die Vermutung, der
Inhalt dieser obskuren und anscheinend verrückten Bücher handle genau davon.
Unter diesem Aspekt freilich ist der Stil der Bücher keine Sache freier Wahl, sondern schiere
Notwendigkeit und keineswegs irrational. Wenn wir aber diese Bücher als Prophezeiungen lesen sollen,
so stellt sich schnell heraus, daß sie falsch sind. Im 29. Kapitel von Ezekiel heißt es von
Ägypten (Vers 11): "Kein Mensch soll das Land durchqueren, nicht einmal ein Tier soll darin leben.
Vierzig Jahre lang soll es nicht bewohnt sein." Da das aber nie so passiert ist, wird dieses
Buch genauso falsch sein wie alle übrigen besprochenen.
Ich beende hiermit diesen Abschnitt über Prophezeiungen.