Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#67)
Kapitel I
Über das Alte Testament (ab)
Jeder Zauberkünstler ist für einen jeweils anderen Trick berühmt. Das war auch bei den Propheten so.
Denn obgleich alle - zumindest die erwähnten - für ihre Lügen bekannt waren, gab es doch
Propheten, die sich im Verfluchen auszeichneten. Elisha, den ich gerade oben erwähnt habe,
war ein Großmeister in dieser Branche des Prophezeiens. Er war es, der die zweiundvierzig Kinder
im Namen des Herrn verflucht hatte, woraufhin die beiden Bärinnen kamen und die Kinder zerfleischten.
Es ist anzunehmen, daß die Kinder Anhänger der Partei Israels waren. Weil aber diejenigen, die fluchen,
auch lügen, kann man dieser Geschichte von Elisha und den Bärinnen ungefähr so viel Glauben
schenken wie der vom Drachen aus Wantley, von dem es heißt:
"Poor children three devoured he,
That could not with him grapple;
And at one sup he ate them up,
As a man would eat an apple."
Eine andere Fraktion von Propheten amüsierte sich mit Träumen und Visionen. Ob tagsüber oder
nächtens, entzieht sich unserer Kenntnis. Wenn sie auch nicht ganz harmlos waren, so waren sie
doch wenigstens nicht boshaft. Dieser Klasse von Propheten gehörten Ezechiel und Daniel an.
Die erste Frage, die sich bei der Lektüre dieser Bücher stellt, ist, ob sie echt sind, also ob sie wirklich
von Daniel oder Ezechiel geschrieben worden sind.
Es gibt keinen Beweis dafür, aber ich bin eher der Meinung, daß sie echt sind - mit folgender
Begründung: Erstens enthalten diese Bücher keine internen Beweise, die klar belegen, daß sie
nicht von Ezechiel oder Daniel verfaßt worden sein konnten - so wie man sie etwa in den Büchern
findet, die dem Moses, dem Joshua, dem Samuel etc. zugeschrieben werden.
Zweitens sind sie sicher nicht vor der Babylonischen Gefangenschaft entstanden - man kann mit
guten Gründen annehmen, daß keines der Bücher im Alten Testament vor dieser Zeit geschrieben worden
ist: Wie ich schon anhand der übrigen Bücher selbst gezeigt habe, sind sie nicht vor dem Beginn der
jüdischen Monarchie produziert worden.
Drittens entspricht der Stil dieser Ezechiel und Daniel zugeschriebenen Bücher der Situation,
in der sich die beiden befunden haben, als sie an den Büchern arbeiteten.
Hätten die zahllosen Kommentatoren und Priester, die auf so verrückte Weise ihre Zeit auf den Versuch
verwendet und vergeudet haben, diese Bücher zu deuten und zu enträtseln, so wie Ezechiel und
David einige Zeit in Gefangenschaft verbracht, hätte dies ihr Vorstellungsvermögen entscheidend
verbessert: Sie hätten plötzlich verstanden, warum die beiden Propheten in diesem seltsamen Stil
geschrieben haben - und die sinnlose Quälerei ihrer Phantasie wäre ihnen erspart geblieben. Sie hätten
nämlich in einer vergleichbaren Situation erkannt, daß auch sie genötigt gewesen wären, alle privaten
Angelegenheiten oder Dinge, die ihre Freunde oder ihre Heimat betroffen hätten, in einer kodierten
Sprache auszudrücken, wie es eben die beiden erwähnten Propheten machen mußten.
Die beiden Bücher unterscheiden sich von allen übrigen dadurch, daß nur sie mit einer Vielzahl von
Träumen und Visionen gefüllt sind. Der Unterschied ergab sich allein daraus, daß die Autoren Kriegs-
oder Staatsgefangene in einem fremden Land waren und so selbst die belanglosesten Informationen,
aber auch politische Projekte oder Meinungen, in obskuren Ausdrücken und Wendungen einander
mitteilen mußten. Sie täuschten Träume und Visionen vor, weil es ihre Sicherheit gefährdet hätte,
hätten sie Fakten in einer klar verständlichen Sprache ausgedrückt.
Wir müssen annehmen, daß die Adressaten dieser Schriften genau gewußt haben, was damit gemeint
war - und daß niemand sonst es verstehen sollte. Und was machen die vielbeschäftigten Kommentatoren
und Priester? Sie lassen ihre Köpfe rauchen, um etwas herauszufinden, was sie nichts angeht.
Photo: Detail der Sankt Johannes Kapelle, 1020 Wien