Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#32)
Über die Vielfalt von Religionen
Daß so viele wilde und skurrile Glaubens- und Religionssysteme fabriziert und errichtet worden sind,
kam durch das Verwerfen all jener Beweise zustande, welche die Welt und die Werke Gottes unseren
Sinnen darbieten und dadurch, wie man das Handeln der Vernunft auf Basis dieser Beweise verweigerte.
Es mag ja viele Religionssysteme geben, die keineswegs moralisch bedenklich sind, die sogar
in vielerlei Hinsicht moralisch gutzuheißen sind. Aber es kann nur ein wahres geben. Und dieses
eine muß und wird stets im Einklang mit dem ewigen Wort Gottes stehen, wie wir es in seinen Werken
beobachten können. Nun ist aber die Konstruktion des Christenglaubens so seltsam, daß jeder
Beweis, den man aus dem Universum ableiten kann, ihm direkt widerspricht oder ihn absurd macht.
Es ist durchaus möglich zu glauben (und es macht mir immer eine große Freude, mich zu diesem
Glauben zu ermuntern), daß es in dieser Welt Menschen gibt, die sich einreden, ein sogenannter
frommer Schwindel könne, wenigstens unter speziellen Umständen, Gutes hervorrufen. Aber der
Schwindel, der einmal eingeführt worden war, konnte später nicht erklärt werden, verhält es sich doch
mit dem frommen Schwindel so wie mit einer schlechten Handlung: Er erzeugt wie sie einen
unheilvollen Zwang zur Fortsetzung.
Jene Leute, die zuerst das christliche System gepredigt und zu einem gewissen Grad mit der
Moral, die Jesus Christus vertrat, kombiniert hatten, konnten sich selbst noch damit beruhigen, jenes
neue System wäre besser als das vorherrschende Heidentum. Von diesen ersten Predigern
übertrug sich der Schwindel auf die zweiten und die dritten und so fort, bis die Idee
von einem frommen Schwindel im Glauben an eine Wahrheit verloren gegangen war. Dieser
Glaube wurde von jenen gefördert, die vom Predigen lebten.
Es ist gut vorstellbar, wie ein solcher Glaube mit diesen Mitteln zum Allgemeingut unter
Laien werden konnte. Aber es ist nahezu unmöglich, sich die jahrhundertelangen Verfolgungen der
Wissenschaft und ihrer Professoren durch die Kirche zu erklären, ohne anzunehmen, daß die
Kirche einige Aufzeichnungen oder Überlieferungen besitzt, welche den Ursprung des Glaubens
als nichts anderes als einen frommen Schwindel entlarven - oder daß sie vorhergesehen hat,
wie unmöglich es sein würde, den Betrug gegen die Beweise aus dem Universum aufrecht
zu erhalten.
Nachdem ich nun die unüberbrückbaren Widersprüche zwischen dem wirklichen Wort Gottes,
wie es im Universum exisitert, und dem sogenannten Wort Gottes, das uns in einem Buch
vorgeführt wird, wie es jeder beliebige Mensch schreiben kann, aufgezeigt habe,
komme ich auf die drei Mittel zu sprechen, die durch alle Zeiten und wahrscheinlich in allen
Ländern immer wieder dazu eingesetzt werden, Menschen an der Nase herumzuführen.
Diese drei Mittel sind Mysterien, Wunder und Propheterei. Die ersten zwei sind mit wahrer
Religion inkompatibel, und das dritte muß stets beargwöhnt werden.
Was Mysterien angeht, so ist zu sagen, daß wohl alle Wahrnehmungen in gewissem Sinne
ein Mysterium für uns sind. Unsere eigene Existenz ist ein Mysterium. Die gesamte lebende
Welt ist ein Mysterium. Wir können nicht erklären, wie aus einer Eichel, die wir in die Erde
stecken, die Eiche wächst. Wir wissen nicht, wie es kommt, daß die Saat aufblüht und sich
verfielfältigt - und einen so riesigen Zins auf ein so geringes Kapital abwirft.
Das Faktum selbst hingegen, im Unterschied zur operationellen Ursache, ist kein Mysterium,
weil wir es sehen, und wir wissen auch, wie wir es einsetzen können, indem wir die Samen
auf die Erde ausstreuen. Wir wissen also genau so viel, wie wir wissen müssen. Den Teil des
Vorganges, den wir nicht verstehen und den wir, selbst wenn wir ihn verstünden, doch nicht
in der Lage wären auszuführen, besorgt der Schöpfer für uns. Wir sind auch besser aufgehoben
auf diese Weise als wenn wir um das Geheimnis wüßten und alles selbst machen müßten.
Obwohl also jedes Ding der Schöpfung in diesem Sinne ein Mysterium für uns darstellt, so kann
doch das Wort Mysterium nicht auf die moralische Wahrheit angewendet werden, genauso wenig
wie man das Wort Finsternis zur Beschreibung des Lichts heranziehen kann. Der Gott, an den
wir glauben, ist ein Gott moralischer Wahrheit, und nicht ein Gott des Mysteriums und des Obskuren.
Mysterien sind das genaue Gegenteil von Wahrheit. Sie sind von Menschenhand erfundener Nebel,
der die Wahrheit verhüllt und sie nur als Zerrbild weitergibt. Die Wahrheit verpackt sich nicht selbst
in ein Mysterium: wenn immer sie in einem solchen eingewickelt auftaucht, ist es das Werk ihrer
Gegner, und nicht ihr eigenes.
Photo: Photo: Holme Next the Sea, North Norfolk