Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#25)

Christentum und Bildung, im Licht der Geschichte (c)


Würde der Glaube an moralisch unbedenkliche Irrtümer keinen Schaden anrichten,

wäre es nicht Teil der moralischen Pflichten, ihnen entgegen zu treten und sie zu beseitigen.

Es war moralisch genauso unbedenklich, an eine Erde so flach wie ein Tranchierbrett zu glauben,

wie es keine besondere Tugend darstellte, sie sich rund wie eine Kugel vorzustellen; noch war

es unmoralisch, daran zu glauben, der Schöpfer hätte außer dieser einen keine andere Welt

geschaffen, ebenso wenig wie der Glaube daran, daß er Millionen gemacht und damit den

Weltraum angefüllt hat, als besonders tugendsam gegolten hätte.


Aber wenn ein Religionssystem auf einem erfundenen System der Schöpfung fußt, das nicht

wahr ist, und wenn es sich damit auf eine Weise verquickt, daß es davon nicht mehr

zu trennen ist, dann ist das eine andere Angelegenheit. Dann nämlich werden aus sonst unschuldigen

Irrtümern moralische Übel. So wird die Wirklichkeit, andernfalls moralisch neutral,

entscheidend, indem sie durch korrespondierende Beweise den Wahrheitsgehalt

der Religion entweder bekräftigt oder widerlegt.


So betrachtet wird es zur moralischen Pflicht, alle möglichen Beweise über Aufbau und

Struktur des Universums oder anderer Teile der Schöpfung zu sammeln, die bei der Beurteilung

der Religion nützlich sein können. Genau das aber haben die Befürworter oder Parteigänger

des christlichen Systems fortwährend bekämpft, als fürchteten sie die Resultate - und haben

nicht nur die Wissenschaften abgelehnt, sondern sogar deren Professoren verfolgt.


Hätten Newton oder Descartes nur drei- oder vierhundert Jahre früher ihre Studien betrieben,

sie hätten das wahrscheinlich nicht überlebt, und hätte Franklin zu jener

Zeit die Blitze aus den Wolken gezogen, hätte er damit seinen Feuertod riskiert.


Später hat man versucht, alle Schuld auf die Goten und Vandalen abzuwälzen. Aber, so ungern das

die Gefolgsleute des Christentums auch glauben oder anerkennen wollen, es bleibt doch wahr,

daß das Zeitalter der Dummheit mit dem System des Christentums angefangen hat. Es gab vor dessen

Zeit mehr Wissen in der Welt als für Jahrhunderte danach. Was das religiöse Wissen angeht,

so war das Christentum, wie bereits einmal dargelegt, nichts weiter als eine neue Art von

Mythologie, die auf den Verschnitt eines alten theistischen Systems folgte.


Wegen dieser langen Unterbrechung in den Wissenschaften, und nur deswegen, blicken wir

heute durch ein riesiges Loch von mehreren Jahrhunderten zurück auf die bewundernswerten

Charaktere der sogenannten Antike. Hätte sich das Wissen auf dem damals existierenden

Vorrat fortpflanzen können, wäre diese Lücke mit weiteren bewundernswerten Charakteren

gefüllt, die an Wissen einander übertroffen hätten. Die heute so geschätzten Antiken wären

respektgebietend im Hintergrund dieser Szene gewesen.

Aber das christliche System hat alles kaputt gemacht. Schauen wir vom Beginn des

sechzehnten Jahrhunderts durch diese Leere in die Antike zurück, so sehen wir zwischen uns und jener

eine weite, sandige Wüste: Nicht ein Gestrüpp versperrt uns die Aussicht auf die fruchtbaren Hügel

dahinter.


Es ist ja eine nur schwer zu glaubende Inkonsistenz, daß etwas unter dem Namen eines

Religionssystems existieren sollte, was das Studium und die Untersuchung des gottgemachten

Universums als unreligiös diskreditiert. Genau das aber ist unleugbar der Fall. Das Ereignis,

das mehr als alle anderen dazu beigetragen hat, diese Kette aus despotischer Ignoranz zu

zerschlagen, war die lutherische Reformation.


Obwohl es nicht so aussieht, als wäre das Luthers Intention gewesen oder derjenigen,

die sich Reformer nannten: Von der Zeit dieser Reformation an begannen die Wissenschaften

wieder aufzuleben, und mit ihr die Großzügigkeit als deren natürliche Begleiterscheinung. Das

war auch das einzig Gute an der sogenannten Reformation, denn im Hinblick auf das Wohl

der Religion könnte sie genausogut auch nicht stattgefunden haben.

Die Mythologie bestand fort wie eh und je, und im Niedergang des einen Christenpapstes

kam eine Unzahl nationaler Päpste empor.

 

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Photo: Earlham, Norfolk

 


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