Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#20)

Wahre Theologie und Aberglaube (a)


Das christliche Glaubenssystem scheint mir eine Art Atheismus zu sein -

eine religiöse Leugnung Gottes. Es bekennt sich zu einem Glauben an einen

Menschen, und nicht an einen Gott. Es ist eine Mischung aus Manismus mit

einer wenn auch kleinen Prise Deismus, und es kommt dem Atheismus

etwa so nahe wie die Dämmerung der Finsternis. Es führt eine undurchsichtige

Figur als Mittler zwischen Gott und den Menschen ein, die es den Erlöser nennt,

und erzeugt dadurch eine religiöse oder vielmehr unreligiöse Sonnenfinsternis.

Es hat den gesamten Orbit der Vernunft verdunkelt.


Das Resultat dieser Verworrenheit ist, daß alles auf den Kopf gestellt worden ist

und verkehrt herum erscheint, und neben all den Umwälzungen, die dieses System

auf magische Weise hervorgebracht hat, hat es auch die Theologie verkehrt.


Das, was heutzutage Naturphilosophie genannt wird und alle Wissenschaften

einschließt, zuvorderst die Astronomie, ist ein Studium der Werke Gottes und

der Macht und Weisheit Gottes anhand dieser seiner Werke - und ist daher

die wahre Theologie.


Was diejenige Theologie anlangt, die heute an ihrer Stelle studiert wird, so

handelt es sich hierbei um das Studium der Meinungen und Moden betreffend Gott:

Nicht um ein Studium Gottes anhand der Werke, die Er gemacht hat,

sondern um das Studium Gottes anhand der Schriften, die von Menschenhand stammen.

Und es ist nicht das geringste Übel, welches das Christentum über die Menschheit

gebracht hat, daß es das urprüngliche und wunderbare theologische System einer schönen

Unschuldigen gleich in Bedrängis gebracht und Tadel ausgesetzt hat, um der

alten Vettel Aberglaube Platz zu machen.


Das Buch Hiob und der 19. Psalm, von denen sogar die Kirche zugibt, daß sie

älter sind als die chronologische Folge der Bibel es vermuten ließe, sind theologische

Schriften, die dem ursprünglichen System von Theologie entsprechen.


Der diesen Schriften inhärente Beweis zeigt deutlich, daß das Studium und das

Nachdenken über die Werke der Schöpfung und über die Macht und Weisheit

Gottes, die sich darin manifestieren, eine wichtige Rolle in der religiösen Praxis

der Zeit gespielt haben. Es waren dieses hingebungsvolle Studium und dieses

Nachsinnen, die zur Entdeckung von Prinzipien geführt haben, auf denen die

heutigen Wissenschaften gründen - und der Entdeckung dieser Prinzipien schulden

nahezu alle Künste, die zur Erleichterung des menschlichen Lebens beitragen,

ihre Existenz.


Alle bedeutenden Künste stammen von irgendwelchen Wissenschaften ab - obschon

die Person, welche sie ausführt, nicht immer - ja sehr selten - diese Verbindung erkennt.


Es ist ein Betrug des christlichen Systems, die Wissenschaften "menschliche Erfindungen"

zu nennen. Nur deren Anwendung ist menschlich. Jede Wissenschaft hat als ihre Basis

ein System von Prinzipien, genauso fest und unveränderbar wie jene, von denen

das Universum gesteuert wird. Die Menschen können diese Prinzipien nicht machen,

sie können sie bloß entdecken.

 


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