Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#15)
Über das Neue Testament (e)
Wenn ich einer Person Geld schulde und nicht zahlen kann, und wenn
mich diese Person dann mit dem Kerker bedroht, dann kann eine andere
Person meine Schuld auf sich nehmen und für mich bezahlen. Freilich
wenn ich ein Verbrechen begangen habe, sieht die Sache anders aus:
Moralisches Recht kann nicht den Unschuldigen als Schuldigen annehmen,
selbst dann nicht, wenn sich der Unschuldige selbst anbietet. Zu vermuten,
ein Rechtssystem könnte das leisten, zerstört dessen Grundprinzip und
also das System selbst: Es ist dann nicht mehr Recht, sondern wahllose
Rache. Allein diese Überlegung zeigt schon, daß die Theorie der Erlösung
auf einer pekuniären Idee gründet, die der von einer Schuld ähnelt, die
eine Person für eine andere begleichen kann. Und da diese pekuniäre Idee
wiederum mit jener sekondären Erlösung korrespondiert, die einem zuteil wird,
wenn man der Kirche Gelder für Vergebung aushändigt, ist es nicht ganz
unwahrscheinlich, daß dieselben Leute die eine wie die andere Theorie
fabriziert haben: Und daß es also in Wahrheit so etwas wie eine Erlösung
nicht gibt, daß sie ein Märchen ist, und daß der Mensch in derselben
Beziehung zu seinem Schöpfer steht, in der er immer schon gestanden ist -
und daß es auch sein größter Trost ist, genau so zu denken.
Laßt die Menschen das glauben, und sie werden besser und moralischer
leben als in jedem System. Nur dadurch, daß man ihnen beibringt, die Haltung von
Gesetzlosen, Ausgestoßenen, Bettlern gar anzunehmen, oder jene von
Gefallenen auf einem, wie man sagt, Misthaufen fern vom Schöpfer, die sich
diesem nur durch Kriecherei und Furcht vor Mittelsmännern annähern können,
erzeugt man in ihnen die verachtungsvolle Ablehnung alles Religiösen
oder Gleichgültigkeit - oder sie werden, was man devot nennt.
Im letztgenannten Fall verbringen sie ihr Leben in Trauer - oder einem
ihr ähnlichen Gehabe. Ihre Gebete sind Tadel, ihre Bescheidenheit Undankbarkeit.
Sie nennen sich selbst Würmer und die fruchtbare Erde einen Misthaufen und
alle Segnungen des Lebens eitel. Sie verachten das wunderbarste Geschenk
Gottes an die Menschen - das Geschenk der Vernunft. Und nachdem sie sich
so bemüht haben, sich selbst ein Glaubenssystem aufzuzwängen, gegen das
die Vernunft revoltiert, nennen sie diese undankbar die menschliche Vernunft,
als ob der Mensch sich selbst Vernunft verleihen könnte.
Und gerade in dieser seltsamen Mischung aus scheinbarer Bescheidenheit und
Verachtung für die Vernunft erdreisten sie sich der frechsten Anmaßungen,
finden überall Fehler, sind in ihrer Selbstsucht nie zufriedenzustellen und
kennen kein Ende ihrer Undankbarkeit.
Sie maßen sich an, dem Allmächtigen anzuschaffen, was er zu tun habe,
sogar was die Lenkung des Universums anlangt. Ihre Gebete sind Diktat.
Wenn die Sonne scheint, beten sie um Regen, wenn es regnet, beten sie
um Sonnenschein. In allem, wofür sie beten, folgen sie der selben Idee: Denn was
anderes sind ihre Gebete als Versuche, den Allmächtigen umzustimmen und
zu veranlassen, doch anders zu handeln, als urprünglich geplant?
Es ist, als würde man sagen: Du kennst Dich nicht so gut aus wie wir.