Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#11)
Über das Neue Testament (a)
So viel zur Bibel. Ich wende mich nun dem Buch zu, das man das Neue Testament nennt.
Das Neue Testament! Das heißt, der neue letzte Wille - als könnte es zwei letzte Willen
des Schöpfers geben.
Wäre es das Ziel oder die Intention von Jesus Christus gewesen, eine neue Religion
zu etablieren, so hätte er ein solch neues System zweifellos selber geschrieben, oder
wenigstens dafür gesorgt, daß es Zeit seines Lebens verfaßt worden wäre. Aber es
ist keine einzige Veröffentlichung vorhanden, die seinen Namen trägt. Alle Bücher
unter dem Namen Neues Testament sind nach seinem Tod geschrieben worden.
Er war Jude von Geburt und Bekenntnis; und er war der Sohn Gottes auf die gleiche Weise,
auf die jede andere Person es auch ist - weil der Schöpfer ist der Vater
aller.
Die ersten vier Bücher, Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, enthalten keine
Geschichte vom Leben Jesu, sondern nur lose Anekdoten von ihm. Diesen Büchern
zufolge scheint die gesamte Zeit seiner Predigertätigkeit auf achtzehn Monate
beschränkt gewesen zu sein; und es war während dieser sehr schmalen Zeitspanne,
daß jene Herren seine Bekanntschaft schlossen. Sie erwähnen, wie er
als Zwölfjähriger bei den jüdischen Doktoren sitzt, um, so sagen sie, Fragen zu
stellen und zu beantworten. Da diese Begebenheit einige Jahre vor ihrer
Bekanntschaft mit ihm liegt, werden sie diese Anekdote sehr wahrscheinlich von
seinen Eltern aufgeschnappt haben.
Von dieser Zeit an verstreichen etwa sechzehn Jahre bis zum nächsten Bericht.
Wo er gelebt oder was er in diesen Jahren getrieben hat, ist nicht bekannt.
Es ist anzunehmen, daß er im Geschäft seines Vaters gearbeitet hat, der ein
Tischler war. Er scheint keinerlei schulische Ausbildung gehabt zu haben, und
es ist durchaus möglich, daß er nicht schreiben konnte, waren doch seine Eltern
extrem arm, wie sich aus dem Umstand schließen läßt, daß sie zum Zeitpunkt
seiner Geburt nicht in der Lage waren, sich eine Bettstatt zu leisten.
Es ist doch einigermaßen sonderbar, daß gerade jene drei Personen, deren
Namen die weltweit am häufigsten zitierten sind, aus sehr obskuren
Familien kommen. Moses war ein Findling. Jesus Christus wurde in einem
Stall geboren. Und Mohammed war ein Maultiertreiber. Der erst- und der
letztgenannte waren Gründer von verschiedenen Religionssystemen; Jesus
Christus freilich hat kein neues System geschaffen. Er rief die Menschen zum
moralischem Handeln und zum Glauben an einen Gott auf.
Sein hervorstechender Charakterzug ist die Menschenliebe.
Photo: Bei Blickling Hall, Norfolk