Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#9)
Untersuchung des Alten Testaments (c)
All die übrigen Teile der Bibel, gemeinhin unter dem Namen der Propheten bekannt,
sind die Arbeit von jüdischen Dichtern und Wanderpredigern, welche Gedichte (1),
Anekdoten und Andacht zusammenwarfen - diese Werke behalten ihren dichterischen
Charakter sogar in der Übersetzung.
Im gesamten Buch, das wir die Bibel nennen, findet sich kein einziges Wort
dafür, was wir heute einen Dichter nennen, noch auch nur ein Wort, wofür wir heute
das Wort Gedicht gebrauchen. Die Erklärung ist einfach - das Wort Prophet, dem
spätere Zeiten eine neue Bedeutung angehängt haben, ist das biblische Wort
für Dichter, und das Wort prophezeien bezeichnet die Kunst des
Gedichteschreibens. Es bezeichnet auch die Kunst, diese Gedichte zur
Melodie eines Musikinstruments zu spielen.
Wir lesen vom Prophezeien mit Flöten, Trommeln und Hörnern, vom Prophezeien
mit Zithern, Zimbeln und allen möglichen anderen Instrumenten, die gerade
in Mode waren. Würden wir heutzutage vom Prophezeien mit einer Fiddel,
einer Flöte oder mit Schlagzeug sprechen, so wäre das ein recht sinnloser
Ausdruck, gar lächerlich, ja geringschätzig in den Augen mancher - und das, weil
wir die Bedeutung des Wortes geändert haben.
Über Saul wird uns berichtet, daß er sich unter den Propheten aufgehalten habe,
und auch, daß er prophezeit habe; was man uns verschweigt, ist, was sie denn
prophezeit haben - beziehungsweise, was er selber prophezeit hat. Da gibt es allerdings
auch nichts zu berichten. Waren doch diese Propheten nichts anderes als
eine Truppe von Musikern und Dichtern und Saul nahm an einem Konzert teil - das
nannte man prophezeien.
Der Bericht über diese Angelegenheit findet sich im Buch Samuel und besagt,
daß Saul eine Gruppe von Propheten traf - eine ganze Gruppe gleich! - die des
Weges kam mit Zither, Trommel und einer Harfe, daß sie prophezeiten und
daß Saul mit ihnen mitprophezeite. Es scheint, wie sich nachher herausstellen sollte,
aber so gewesen zu sein, daß Saul nicht sonderlich gut prophezeite. Meint,
daß er seinen Part schlecht spielte, weil, so wird gesagt, ein böser Geist von Gott (2)
auf Saul kam - und er begann zu prophezeien.
Gäbe es auch keine andere Passage in der Bibel als diese, die uns zeigte, daß
wir die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Prophezeiung verloren und durch
eine andere ersetzt haben, so genügte doch diese eine: Ist es ja unmöglich, das
Wort Prophezeiung an dieser Stelle anzuwenden, wenn wir es in dem Sinn
gebrauchen, den ihm spätere Zeiten gegeben haben. Die Art und Weise,
wie es hier gebraucht wird, entkleidet es jedweder religiöser Bedeutung, und zeigt,
daß damals einer in gleicher Weise ein Prophet sein oder prophezeien konnte, wie
er heutzutage ein Dichter oder Musiker sein kann, ohne besondere Rücksicht
auf Sittlichkeit oder Unsittlichkeit seines Charakters. Das Wort war ein Fachausdruck,
gleichermaßen und in verwirrender Weise sowohl für Musik als auch für Dichtung
im Gebrauch - und ohne Einschränkung im Hinblick darauf, was sich Dichtung oder Musik
zum Thema machen wollten.
Deborah und Barak werden Propheten genannt, nicht etwa weil sie etwas
vorhergesagt hätten, sondern bloß, weil nun ein Gedicht oder ein Lied, das sie
über irgendeine bereits vollbrachte Handlung verfaßt hatten, ihren Namen trägt.
David wird unter den Propheten geführt, weil er Musiker war und weil er
(wenn auch vielleicht fälschlicherweise) berühmt war für seine Autorschaft der Psalmen.
Abraham aber, und Isaak, und Jakob, werden nicht Propheten genannt: Aus den
Berichten, die wir über sie haben, geht nicht hervor, daß sie singen, Musik machen
oder Gedichte schreiben konnten.
Man berichtet uns von besseren oder schlechteren Propheten. Genausogut könnte
man uns einen besseren oder schlechteren Gott einreden: Denn im modernen
Sinn des Wortes kann es keine Grade im Prophezeien geben. Freilich Grade in
der Kunst der Dichtung gibt es, und aus diesem Grunde paßt der Begriff zu obiger
Phrase, wenn wir unter ihm bessere oder schlechtere Dichter verstehen.
(1) Da es viele Leser gibt, denen es nicht einleuchten mag, wie eine Komposition, die sich
nicht reimt, ein Gedicht sein kann, füge ich zu ihrer Information diese Anmerkung hinzu:
Ein Gedicht besteht - im Grunde - aus zwei Dingen: Bild und Komposition. Die Komposition
von Gedichten unterscheidet sich in der Art und Weise von Prosa, wie lange und kurze
Silben zusammengestellt werden. Nimm eine lange Silbe aus einer Gedichtzeile und ersetze
sie durch eine kurze - oder umgekehrt setze eine lange Silbe an eine Stelle, wo eine kurze
sitzen sollte, und die Zeile verliert ihre poetische Harmonie. Der Effekt auf die Gedichtzeile
gleicht jenem durch eine falsche Note in einem Lied. Die Bildersprache in den Büchern unter
dem Titel Propheten gehört samt und sonders ins Reich der Dichtung: Sie ist erfunden und
häufig extravagant und wäre kaum in einer anderen dichterischen Form außer dem Gedicht akzeptabel.
Um zu zeigen, daß diese Schriften in Versen verfaßt sind, nehme ich zehn Silben, wie sie im
Buch stehen, und füge eine Zeile in der selben Silbenzahl (in heroischem Maß) hinzu, die sich
auf die erste reimt. Das soll zeigen, daß die Komposition dieser Schriften der von Gedichten
folgt. Das folgende Beispiel ist aus dem Buch Jesaja:
"Hear, O ye heavens, and give ear, O earth!"
'Tis God himself that calls attention forth.
Ein anderes Beispiel ist aus dem Buch Jeremias, dem ich zwei zusätzliche Verse anhänge,
um die Figur auszuführen und die intention des Dichters zu zeigen:
"O! that mine head were waters and mine eyes"
Were fountains flowing like the liquid skies;
Then would I give the mighty flood release,
And weep a deluge for the human race.
Der Autor.
(2) Da alle jene Herrschaften, die sich selbst so gern "von Gottes Gnaden" nennen, und mit ihnen alle
Kommentatoren, so einen Spaß daran haben, einander zu verwirren, überlasse ich es ihnen mit Freude,
die Bedeutung des ersten Teils dieser Wendung auseinanderzusetzen - nämlich die vom bösen Geist von Gott.
Ich bleibe bei meinem Text - und ich bleibe bei dieser Bedeutung des Wortes Prophezeiung.
Der Autor.