Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#4)
Märchenhafte Grundlagen des Christentums
Auf der schlichten Erzählung dieser Tatsachen und einer anderen
Chose, die ich noch behandeln werde, haben die christlichen Mythologen,
die sich selbst die christliche Kirche nennen, ihr Märchen aufgebaut, das,
wenigstens was seine Absurdität und Extravaganz anlangt, durch nichts
übertroffen wird, was man in den Texten der antiken Mythologen finden kann.
Die antiken Mythologen erzählen, daß die Giganten einen Krieg gegen
Jupiter anzettelten, daß einer von ihnen hundert Felsblöcke auf
einmal gegen ihn schleuderte, daß Jupiter ihn mit einem Donnerschlag
besiegte und ihn danach unter dem Ätna einsperrte - und daß nun der Ätna
jedes Mal Feuer speit, wenn sich der Gigant umdreht.
Es ist hier leicht zu sehen, wie die spezielle Sorte Berg - der Ätna ist
ein Vulkan - die Idee zur Geschichte inspiriert hat; und daß die Geschichte
so konstruiert ist, daß sie zu diesem Umstand der Natur paßt und damit
verknüpft werden kann.
Die christlichen Mythologen erzählen, daß ihr Satan einen Krieg gegen
den Allmächtigen anzettelte, der ihn freilich besiegte und ihn danach - nein,
nicht unter einem Berg, sondern in einem Loch einsperrte. Es ist recht leicht
zu sehen, wie die erste Geschichte die Idee zum zweiten Märchen angeregt hat:
Die Geschichte von Jupiter und den Giganten ist ja einige hundert Jahre vor der
über den Satan schon erzählt worden.
Insofern unterscheiden sich antiken Mythologen also sehr wenig von ihren
christlichen Nachfolgern. Freilich die letzteren haben es verstanden, die
Angelegenheit viel weiter zu treiben.
Was sie aushecken, ist, den märchenhaften Teil der Geschichte
über Jesus Christus mit dem Märchen zu verknüpfen, das seinen Ursprung
am Ätna genommen hat. Und um alle diese Teile der Geschichte zusammenzuflicken,
bedienen sie sich der jüdischen Überlieferungen: Die christliche Mythologie besteht
zum Teil aus der antiken Mythologie und aus jüdischen Überlieferungen.
Die christlichen Mythologen mußten, nachdem sie ihn in ein Loch eingesperrt hatten,
den Teufel wieder auslassen, um ihr Märchen fortsetzen zu können. Er wird sodann in
den Garten Eden eingeschleust, und zwar in Gestalt einer Schlange. In dieser Gestalt
beginnt er nun seine bekannte Konversation mit Eva, die so gar nicht überrascht darüber ist,
eine Schlange sprechen zu hören. Das Problem dieses tête-à-tête ist, daß er sie dazu
überreden kann, einen Apfel zu essen. Und das Verspeisen dieses Apfels verdammt die
ganze Menschheit.
Man sollte doch annehmen, daß, nachdem sie ihm nun diesen Triumph über die
gesamte Schöpfung gegeben hatten, die Kirchenmythologen wenigstens gütig
genug gewesen wären, den Teufel wieder in sein Loch zurückzuschicken. Oder,
wenn sie schon das nicht machen wollten, daß sie wenigstens einen Berg auf
ihn gestellt hätten (immerhin behaupten sie, daß ihr Glaube Berge versetzen kann),
oder daß sie ihn unter einen Berg gesperrt hätten, wie es die antiken Mythologen
vorgemacht hatten, um ihn davon abzuhalten, sich weiterhin bei den Frauen
herumzutreiben und noch mehr Unheil anzurichten. Stattdessen lassen sie
ihn auf freiem Fuß, nicht einmal eine Bewährungsfrist setzen sie - und das
ganze Geheimnis ist: Sie kommen ohne ihn nicht aus. Nach all der Mühe, die
sie mit seiner Erschaffung hatten, bestechen sie ihn, zu bleiben: Sie versprechen ihm
ALLE Juden, ALLE Türken, in einem Vorgriff auf die Geschichte, dazu noch
neun Zehntel der restlichen Welt und Mohammed als Zugabe. Wer kann
da noch an der Großzügigkeit der christlichen Mythologie zweifeln?
Nachdem sie also eine Auferstehung und einen Kampf im Himmel erfunden hatten,
in dem die Kämpfenden weder gewinnen noch sterben konnten, nachdem sie
den Satan in sein Loch gesteckt, ihn wieder ausgelassen, ihm den Triumph
über die ganze Schöpfung zugestanden und die gesamte Menschheit
durch den Verzehr eines Apfels verdammt hatten, zwirbeln die christlichen
Mythologen die beiden Fäden ihres Märchens zusammen:
Sie präsentieren diesen tugendhaften und liebenswerten Menschen, Jesus Christus,
gleichzeitig Gott und Mensch, und obendrein Sohn Gottes durch himmlische Zeugung,
mit dem Zweck, ihn zu opfern - und warum?
Weil, so sagen sie, Eva besiegt von ihren Gelüsten - einen Apfel gegessen hat.
Photo: Wild Apple, Burnham