Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#3)
Eine Einschätzung des Charakters und der Geschichte von Jesus Christus
Selbst wenn man all dies mit nur minimaler Respektlosigkeit liest - nichts von dem,
was hier gesagt wird, gilt für den wirklichen Charakter Jesu Christi. Er war ein tugendhafter
und liebenswerter Mensch. Die Moral, die er predigte und praktizierte, war von äußerster Güte;
und obgleich ähnliche Moralsysteme schon von Konfuzius und einigen griechischen Philosophen
vor seiner Zeit gepredigt worden waren und von den Quäkern seither -
und von vielen anderen guten Menschen in allen Zeiten - so ist seine Moral
doch von keiner anderen übertroffen worden.
Jesus Christus hat keinen Bericht über sich selbst geschrieben, nichts von seiner Geburt, von seiner
Herkunft oder von sonst irgendetwas. Nicht eine Zeile von dem, was das Neue Testament
genannt wird, stammt aus seiner Feder. Die Geschichte über ihn ist zur Gänze das Werk
anderer Leute. Was den Bericht über seine Auferstehung und Himmelfahrt anlangt, so ist
er das notwendige Gegenstück zur Geschichte seiner Geburt. Seine Biographen, die ihn
auf übernatürliche Weise in die Welt gebracht hatten, mußten ihn auf die selbe Art wieder
aus ihr hinausschaffen, andernfalls wäre der erste Teil der Geschichte zerbröselt.
Der jämmerliche Erfindungsgeist, der aus diesem letzte Teil spricht, übertrifft alles,
was ihm vorangeht. Der erste Teil, jener der wundersamen Empfängnis, war keine
Sache, die von der Öffentlichkeit gesehen werden konnte. Darum hatten die Erzähler dieses
Teils den Vorteil, daß - selbst wenn ihnen nicht unbedingt geglaubt worden ist - sie wenigstens
nicht aufgedeckt werden konnten. Niemand konnte von ihnen verlangen, die Begebenheit
zu beweisen - es war dies eine von den schwer beweisbaren Angelegenheiten:
Und - es war unmöglich, daß die Person, von der solches behauptet wurde, es selbst
beweisen konnte.
Freilich die Auferstehung einer toten Person und ihre Himmelfahrt durch die Luft ist,
was die Beweisführung angeht, eine ganz andere Sache als die unsichtbare Empfängnis
eines Kindes im Mutterleib. Auferstehung und Himmelfahrt, einmal angenommen,
sie haben tatsächlich stattgefunden, lassen eine öffentliche Wahrnehmung zu,
vergleichbar dem Aufstieg eines Ballons oder der Sonne zur Mittagszeit - und wenigstens für
ganz Jerusalem.
Etwas, das von allen geglaubt werden soll, verlangt danach, daß Indiz und Nachweis
allen gleichermaßen zugänglich und möglich sind - universell möglich sind. Da aber die öffentliche
Sichtbarkeit der letzten berichteten Begebenheit aus dem Leben Jesu der einzige
Nachweis ist, der auch die erste beglaubigen helfen kann, zerfällt das gesamte Konstrukt:
Denn dieser Nachweis ist niemals erbracht worden. Anstelle dessen wird
eine kleine Anzahl von Personen, nicht mehr als acht oder neun - stellvertretend für die
ganze Welt - vorgeführt, um zu sagen: Wir haben´s gesehen. Und der Rest der Welt
soll daran zu glauben. Es scheint jedoch so zu sein, daß Thomas die Auferstehung
nicht geglaubt hat und, wie berichtet wird, sichtbare und handfeste Beweise verlangte.
Also werde ich die Geschichte auch nicht glauben, und die angeführte Begründung ist für mich
so gut wie für alle anderen, wie sie für Thomas war.
Jeder Versuch, diese Angelegenheit zu verschleiern oder zu beschönigen, ist zwecklos. Diese
Geschichte, wenigstens was ihren übernatürlichen Teil angeht, weist gleich beim ersten
Hinschauen alle Zeichen von Betrug und Zwang auf. Wir wissen ebenso wenig, wer die Autoren waren,
wie wir sicher sein können, daß jene Bücher, die diese Geschichten enthalten, von denen
geschrieben worden sind, deren Namen sie tragen. Den besten noch verfügbaren Beweis, den wir
in dieser Angelegenheit haben, sind die Juden. Sie stammen direkt von den Leuten ab, die zu jener
Zeit gelebt haben, als Auferstehung und Himmelfahrt stattgefunden haben sollen. Und sie sagen:
Es ist nicht wahr. Mir ist es immer schon seltsam vorgekommen, die Juden als Beweis für
den Wahrheitsgehalt der Geschichte anzuführen. Das ist doch ungefähr so, als würde ein Mensch
sagen: Ich werde die Wahrheit meiner Aussage beweisen, indem ich jene
Leute vorführe, die das Gegenteil behaupten.
Daß eine Person wie Jesus Christus existiert hat, daß er gekreuzigt worden ist - was die
gängige Hinrichtungsart der Zeit war - das sind historische Berichte streng im Rahmen
des Wahrscheinlichen. Er predigte eine hervorragende Moral und die Gleichheit der Menschen.
Freilich predigte er auch gegen die Korruption und die Habgier der jüdischen Priester,
und das brachte ihm Haß und Rachsucht der gesamten Priesterzunft ein.
Was diese Priester ihm vorwarfen, waren Aufruhr und Verschwörung gegen das römische
Reich - dem die Juden unterworfen und steuerpflichtig waren. Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß die römischen Behörden im Geheimen Angst vor den Effekten seiner Doktrin hatten -
genauso wie die Priester. Es ist auch möglich, daß Jesus über einen vom römischen Reich
unabhängigen jüdischen Staat spekuliert hat. Indes, zwischen diesen beiden aufgerieben, verlor
jener tugendhafte Reformer und Revolutionär sein Leben.
Photo: River Yare, Norwich