Mischa Lucyshyn: Thomas Paines "Das Zeitalter der Vernunft" (#2)
Über göttliche Aufträge und Offenbarungen
Jede staatliche Kirche oder Religion hat sich etabliert, indem sie
einen Spezialauftrag Gottes vortäuschte - übermittelt an bestimmte
Einzelpersonen. Die Juden haben ihren Moses;
die Christen ihren Jesus Christus, ihre Apostel und Heiligen;
und die Türken ihren Mohammed - als ob der Weg zu Gott nicht
allen Menschen gleichermaßen offen stünde.
Alle diese Kirchen verweisen auf bestimmte Bücher, die sie
Offenbarung nennen, oder Wort Gottes. Die Juden sagen, ihr
Wort Gottes sei von Gott persönlich an Moses übergeben worden;
die Christen sagen, ihr Wort Gottes sei durch göttliche Inspiration
auf sie gekommen; und die Türken sagen, ihr Wort Gottes (der Koran)
sei von einem Engel vom Himmel gebracht worden. Jede dieser Kirchen
bezichtigt die jeweils anderen des Unglaubens; was mich anlangt:
Ich mißtraue ihnen allen.
Da es notwendig ist, die richtigen Ideen mit Wörtern zu verknüpfen,
möchte ich, ehe ich mich weiter in das Thema vertiefe, ein paar
Beobachtungen zum Wort Offenbarung anbieten.
Offenbarung, wenn im Zusammenhang mit Religion gebraucht, bedeutet etwas,
das unmittelbar von Gott zum Menschen kommuniziert wird.
Niemand wird leugnen oder bezweifeln, daß der Allmächtige
einer solchen Kommunikation fähig ist, wenn er Lust darauf hat.
Aber einmal angenommen, nur zum Zweck der Ausführungen hier,
daß etwas einer bestimmten Person geoffenbart worden ist,
und niemandem sonst: Das ist dann eine Offenbarung für
diese Person allein. Wenn diese Person es einer zweiten Person
erzählt, und diese zweite einer dritten, die dritte einer vierten
und so weiter - dann hört es auf, eine Offenbarung für all diese
Leute zu sein. Es ist eine Offenbarung für die erste Person
und Hörensagen für alle anderen - und dementsprechend sind
diese anderen auch nicht verpflichtet, daran zu glauben.
Es ist ein Widerspruch in Begriff und Idee, etwas Offenbarung
zu nennen, das aus zweiter Hand auf uns kommt, egal ob
schriftlich oder mündlich. Offenbarung ist notwendigerweise
auf die erste Kommunikation beschränkt - alles danach ist lediglich
ein Bericht über eine Offenbarung, von der eine Person behauptet,
sie sei ihr zuteil geworden; und obgleich diese Person sich verpflichtet
fühlen mag, daran zu glauben, kann daraus keine Pflicht für mich
abgeleitet werden, es in derselben Art und Weise zu glauben: Denn
es war keine Offenbarung an mich, und ich habe nicht mehr als die Versicherung
dieser Person, daß es eine Offenbarung an sie selbst gewesen sei.
Als Moses den Kindern Israels erzählte, daß er die zwei Tafeln mit
den Geboten aus der Hand Gottes erhalten habe, waren sie
nicht verpflichtet, das zu glauben, denn sie hatten keine andere Gewähr
als sein Wort. Die Gebote weisen keine inneren Beweise für ihren göttlichen Ursprung vor;
sie enthalten ein paar gute moralische Regeln, wie sie jede und jeder,
sofern zur Gesetzgebung halbwegs qualifiziert, auch produzieren könnte,
ohne deshalb gleich auf übernatürliche Intervention zurückgreifen zu müssen. (1)
Wenn mir gesagt wird, daß der Koran im Himmel geschrieben und dann von
einem Engel dem Mohammed gebracht worden ist, kommt dieser Bericht
derselben Art von Hörensagen und Beweisführung aus zweiter Hand
ein wenig zu nahe. Ich selber habe den Engel nicht gesehen,
und deshalb habe ich ein Recht, nicht daran zu glauben.
Wenn ich weiters höre, daß eine Frau, die Jungfrau Maria genannt wird,
gesagt oder erklärt hat, daß sie ohne Beischlaf mit einem Mann mit
einem Kind schwanger gewesen sei, und daß ihr Verlobter, Joseph, behauptet
hat, ein Engel habe ihm das gesagt, dann habe ich ein Recht, ihnen zu glauben -
oder nicht zu glauben. So ein Umstand braucht wohl einen etwas stärkeren
Beweis als die bloßen Versicherungen der beiden: Freilich haben wir nicht einmal diese -
denn weder Joseph noch Maria haben selbst über die Angelegenheit
geschrieben; es sind andere, die darüber berichten, daß die beiden solches
gesagt hätten - es ist Hörensagen von Hörensagen, und ich für meinen Teil
ziehe es vor, meinen Glauben nicht auf Basis einer solchen Beweisführung aufzubauen.
Es ist freilich nicht schwierig, eine Erklärung dafür zu finden, warum dieser
Geschichte von Jesus als Sohn Gottes überhaupt Glaube geschenkt worden ist.
Jesus ist zu einer Zeit geboren, als die heidnische Mythologie noch Mode und Ansehen
in der Welt genoß - und diese Mythologie hatte die Menschen auf den Glauben
an so eine Geschichte vorbereitet. Nahezu alle außergewöhnlichen Menschen,
die zur Zeit heidnischer Mythologien gelebt haben, sind bekannt dafür, die Kinder
von einigen ihrer Götter zu sein. Es war zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich,
daran zu glauben, jemand sei von einem Gott gezeugt worden. Daß Götter
mit Frauen verkehrten war eine ganz normale Meinung der Zeit.
Jupiter hat den Berichten zufolge mit hunderten geschlafen: Die Geschichte von Jesus
hatte deshalb nichts Neues, Wunderbares oder gar Obszönes an sich; sie paßte
zu den Meinungen, die unter jenen Völkern vorherrschten, die man Heiden oder
mythisch nennt - und es waren nur solche Leute, die daran glaubten.
Die Juden, die sich in ihrem Glauben immer an nur einen Gott gehalten hatten,
und an keinen mehr, und die die heidnische Mythologie immer schon zurückgewiesen
hatten, schenkten dieser Geschichte zu keiner Zeit Glauben.
Es ist seltsam, festzustellen, daß die Theorie, die man nun christliche Kirche nennt,
den Ausläufen der heidnischen Mythologie entspringt. Zunächst findet eine direkte
Übernahme statt: man läßt den angeblichen Gründer von Gott zeugen.
Die Dreieinigkeit, die dann folgt, ist nichts weiter als eine Reduktion
vormaliger Vielheit, die ungefähr zwanzig- oder dreißigtausend Götter umfaßte;
die Statue der Maria folgt der Statue der Diana von Ephesus; die Vergötterung
der Helden mutiert zur Kanonisierung der Heiligen; die Heiden haben einen
Gott für alles und jedes; die christlichen Heiden haben Heilige für alles; die Kirche
ist mit diesen ebenso vollgestopft wie das Pantheon mit jenen, und Rom ist
das Zentrum für beide. Die christliche Theorie ist nichts anderes als der Götzendienst
der alten Heiden - nur besser den Zielen von Macht und Geldmacherei angepaßt.
Und so bleibt es noch immer Aufgabe der Vernunft und der Philosophie,
diesen amphibischen Schwindel abzuschaffen.
(1) Es ist hier allerdings nötig, jene Erklärung auszuschließen, die besagt, daß Gott die Sünden der
Väter an ihren Kindern heimsucht: Das ist im krassen Widerspruch zu allen Grundsätzen moralischen Rechts. - Der Autor.
Photo: Blakeney Harbour, North Norfolk