Von Jelena Juresa
Die aktuelle Installation „What It Feels Like
for a Girl“ von Jelena Juresa (Serbien) wird am Dienstag, dem
8. Juni 2010
ab 19:00 Uhr in der Mehrzweckhalle Urscha (Gemeinde Labuch) gezeigt.
Paris, 22. September 2005
Metro No. 7, Palais Royal Station
Auf dem Sitz gegenüber von mir bemerke ich
eine Frau in den frühen Vierzigern. Sie blickt nachdenklich vor sich
hin, während ein Hund zu ihren Füßen eingenickt ist. Sie trägt Sandalen
mit seidenen Riemen um ihre Knöchel. Das macht die ganze Gestalt dieser
großen, starken Frau ungewöhnlich attraktiv. Ich starre sie an. Ich
wünsche mir, sie zu fotografieren. Ich frage sie um Erlaubnis. Sie
stimmt mit einem Lächeln zu, obwohl sie, wie sie bescheiden zugibt,
nicht versteht warum ich sie so interessant finde.
Ihr Name ist Delphine. Der Hund heißt Roberto.
Alles kommt zum Stillstand. Unerwartet. Man kann die Stille
hören. Delphine formt mit ihren Fingern den Buchstaben H, dann weist ihr
Daumen nach vorne, den Buchstaben I zeigend, schließlich hebt sie zwei
Fingern in die Form des V. "Oh ja", sagt sie, "Ich habe etwas
vergessen." Sie kreuzt Finger zur Form eines Plus-Zeichens.
Der Lärm ist unerträglich – die U-Bahn wackelt wie verrückt
– ich sehe eine Menge Leute, die sich zur Tür des Waggons drängen. Ich
kann mich nicht bewegen, muß mich setzen. Ich setze mich neben sie.
Delphine ist HIV-positiv. Sie erklärt, daß ich jetzt weiß,
was sonst niemand weiß. "Oder was alle anderen wissen", sagt sie leise,
eher so vor sich hin.
Sie bittet mich, ein Foto von Roberto zu machen. Roberto
wird nicht viel länger leben. Sie will, daß ich ihr die Fotos schicke.
Sie schreibt meinen Namen auf: Jelena.
Eine neue Rolle Film.
Vielleicht hätte ich bleiben sollen.
Tränen.
Eine Feuertaufe.
Paris, 23. September 2005
Ich habe die Fotos im nächstgelegenen Fotolabor entwickeln
lassen. Ich breite sie auf dem Boden aus, suche nach dem Porträt der
Person, mit der ich dreißig Minuten, die so wichtig für mich wurden,
verbracht habe.
Sie ist in jedem Foto.
Und sie ist in keinem davon.
Ich lege die Fotos in eine Schublade weg.
Das ist, wie es begann.
+) Doku
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Mit freundlicher Unterstützung
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