text #5 Bürgersteig #2
Von Martin Krusche
Ich verbringe allerhand Zeit auf den
Gleisdorfer Bürgersteigen, um meine Wegstrecken zu erledigen, auch um mit Menschen über
das Leben und die Welt zu plaudern. Also habe ich in letzter Zeit öfter jemanden gefragt:
Was ist denn das, Bürgertum?" Dafür erhielt ich mehr als alles andere:
Lächeln und Kopfschütteln.
Es gibt offenbar keine allgemein gängigen
Vorstellungen davon. Ich liebe die harten Kontraste, zugleich diese Anforderung: Wir
müssen immer wieder eine gemeinsame Sprache finden, sonst können wir nicht einmal mit
einander streiten.
Kürzlich war von einem aufgebrachten Vater zu lesen,
dessen Tochter in Graz beraubt worden ist. Michael K. sagte: Ein gewisses Maß an
Sicherheit darf man als Steuerzahler doch verlangen." Sicherheit! Eine der teuersten
Illusionen unserer Kultur. Wenn heute die Frage auftaucht, was denn das sei,
Bürgertum", dann ist genau das ein zentraler Punkt.
Ein Teil vom Entgelt für ordentliche Arbeit"
wird an die Gemeinschaft übergeben, damit diese Abgaben zur Steigerung von Lebenskomfort
und Sicherheit (!) verwendet werden mögen. Dafür sollen in manchen Lebensbereichen
Disziplin und auch Verzicht aufgebracht werden. (Was heute unter bürgerlichen
Tugenden" verstanden wird, konnte mir kaum jemand sagen.)
Komfort und Sicherheit haben auf jeden Fall, wenn sie nicht
auf Kosten anderer geraubt werden, einen hohen Preis. Die freundlichste Deutung von
konservativ" wäre demnach: Erhalten und pflegen, was jemand für wertvoll
hält.
Zugleich belegen die letzten Jahrhunderte an Erfahrungen
eindeutig, daß sich unter der Flagge von Bürgersinn" und dem
Konservieren von Werten" oft bloß Leute verschanzen, die sich zu Lasten
anderer Vorteile verschafft haben, die solche Vorteile bloß für sich selbst
sicherstellen wollen und daher nicht wünschen, daß sich irgendwas am Lauf der Dinge
ändert.
Um es polemisch auszudrücken: Kein kleiner Ganove kann an
seinen Mitmenschen so viel Schaden anrichten, wie ein schlauer Herr im Anzug, der es schon
zu etwas gebracht hat. So gesehen bleibt erstaunlich, wie gerne sich kleine
Leute" über die Untaten kleiner Ganoven auslassen und sich auf solche Vergehen
konzentrieren, während ihnen offenbar die Schneid fehlt, über die Machenschaften von so
manchen parfümierten Krawattenköpfen auch nur nachzudenken.
Ich habe eingangs behauptet, Sicherheit sei eine teure
Illusion. Die hält nämlich für ein ganzes Volk nur dann, wenn eben dieses ganze Volk
weitgehende Einigkeit zeigt, bestimmte Regeln hoch zu halten. Regeln wie wir sie etwa in
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" zusammengefaßt finden.
Es lohnt sich, dieses Dokument gründlich zu studieren.
Wir sollten uns nichts vormachen. Schließen wir nur einen
Menschen aus genau diesem Wertekatalog" aus, dann kann es morgen definitiv
jeden treffen; daß nämlich sein oder ihr Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrecht
aus einem beliebigen Grund zurückgewiesen, abgeschmettert wird.
Wenn also heute von Bürgertum" die Rede ist,
müssen wir vermutlich darüber debattieren, was wir unter Staatsbürgertum"
verstehen wollen und welche staatsbürgerlichen Tugenden" wir für
unverzichtbar halten.
Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte"
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