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Bürgersteig #2
Von Martin Krusche

Ich verbringe allerhand Zeit auf den Gleisdorfer Bürgersteigen, um meine Wegstrecken zu erledigen, auch um mit Menschen über das Leben und die Welt zu plaudern. Also habe ich in letzter Zeit öfter jemanden gefragt: „Was ist denn das, Bürgertum?" Dafür erhielt ich mehr als alles andere: Lächeln und Kopfschütteln.

Es gibt offenbar keine allgemein gängigen Vorstellungen davon. Ich liebe die harten Kontraste, zugleich diese Anforderung: Wir müssen immer wieder eine gemeinsame Sprache finden, sonst können wir nicht einmal mit einander streiten.

Kürzlich war von einem aufgebrachten Vater zu lesen, dessen Tochter in Graz beraubt worden ist. Michael K. sagte: „Ein gewisses Maß an Sicherheit darf man als Steuerzahler doch verlangen." Sicherheit! Eine der teuersten Illusionen unserer Kultur. Wenn heute die Frage auftaucht, was denn das sei, „Bürgertum", dann ist genau das ein zentraler Punkt.

Ein Teil vom Entgelt für „ordentliche Arbeit" wird an die Gemeinschaft übergeben, damit diese Abgaben zur Steigerung von Lebenskomfort und Sicherheit (!) verwendet werden mögen. Dafür sollen in manchen Lebensbereichen Disziplin und auch Verzicht aufgebracht werden. (Was heute unter „bürgerlichen Tugenden" verstanden wird, konnte mir kaum jemand sagen.)

Komfort und Sicherheit haben auf jeden Fall, wenn sie nicht auf Kosten anderer geraubt werden, einen hohen Preis. Die freundlichste Deutung von „konservativ" wäre demnach: Erhalten und pflegen, was jemand für wertvoll hält.

Zugleich belegen die letzten Jahrhunderte an Erfahrungen eindeutig, daß sich unter der Flagge von „Bürgersinn" und dem „Konservieren von Werten" oft bloß Leute verschanzen, die sich zu Lasten anderer Vorteile verschafft haben, die solche Vorteile bloß für sich selbst sicherstellen wollen und daher nicht wünschen, daß sich irgendwas am Lauf der Dinge ändert.

Um es polemisch auszudrücken: Kein kleiner Ganove kann an seinen Mitmenschen so viel Schaden anrichten, wie ein schlauer Herr im Anzug, der es schon zu etwas gebracht hat. So gesehen bleibt erstaunlich, wie gerne sich „kleine Leute" über die Untaten kleiner Ganoven auslassen und sich auf solche Vergehen konzentrieren, während ihnen offenbar die Schneid fehlt, über die Machenschaften von so manchen parfümierten Krawattenköpfen auch nur nachzudenken.

Ich habe eingangs behauptet, Sicherheit sei eine teure Illusion. Die hält nämlich für ein ganzes Volk nur dann, wenn eben dieses ganze Volk weitgehende Einigkeit zeigt, bestimmte Regeln hoch zu halten. Regeln wie wir sie etwa in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" zusammengefaßt finden. Es lohnt sich, dieses Dokument gründlich zu studieren.

Wir sollten uns nichts vormachen. Schließen wir nur einen Menschen aus genau diesem „Wertekatalog" aus, dann kann es morgen definitiv jeden treffen; daß nämlich sein oder ihr Anspruch auf Menschenwürde und Menschenrecht aus einem beliebigen Grund zurückgewiesen, abgeschmettert wird.

Wenn also heute von „Bürgertum" die Rede ist, müssen wir vermutlich darüber debattieren, was wir unter „Staatsbürgertum" verstehen wollen und welche „staatsbürgerlichen Tugenden" wir für unverzichtbar halten.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte"

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resethome
37•09