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Das Prinzip Lügenpresse
Ich sehe mich in der Tradition alter Hackler. Da meint
Handwerker, die heute zwischen 80 und 90 Jahre alt sind, bei
denen ich folgendes Prinzip kennengelernt hab: Man sagt nur, was
man kann und man kann das, was man sagt. Es geht dabei um eine
Auffassung von Redlichkeit, die ein Fließgleichgewicht zwischen
dem Denken, dem Reden und dem Tun verlangt.
Frau Cla's
Klar ist ein junger Mensch, therapeutisch tätig, so genau weiß
man es aber nicht. Sie sieht sich auf Facebook gerne in
ungezählten Varianten selbst lächeln und hat einen Bekannten,
den Herrn Qigong. Dem legte sie meine Glosse
„Berlin, August 2020“ wie eine Wuchtel zum
Freistoß zurecht und Herr Qigong kickte die Wuchtel.
Er
schrieb mir rätselhaft: „Konnten Sie mit den 3 Polizisten
reden ? Sie irgendwie unterstützten ?“ Im folgenden Dialog
wurde klar, was er als Frage verkleidet hat, war eine Ansage im
Sinn von: „Du warst nicht dort, ich schon, dein Text ist
daher unerheblich.“
Diesem Unternehmen der Umdeutung meiner Glosse schloß
sich kurz Tante Friedl an, die so ungefähr alle zehn Jahre in
meiner Gasse auftaucht, um ein wenig zu pöbeln. Das Setting ist
von großer Anschaulichkeit, was die Neue Bourgeoisie betrifft.
Meine Software besagt, daß die genannte Glosse 263 Wörter
umfaßt. Dieses Textvolumen sollte für einen ausgeschlafenen
Menschen bewältigbar sin, um mühelos entschlüsselt zu werden.
Mein kleiner Text hat zwei Themen.
1.: Eine anstürmende
Menschenmenge, die offenbar darauf aus ist, in das Berliner
Reichstagsgebäude einzudringen. Es hätte unter anderem zur Folge
gehabt, daß unter dem Dach des Parlaments die Reichskriegsflagge
geschwenkt würde. Daraus wären Bilder entstanden, die nach dem
weitreichenden Rechtsruck Europas für eine problematische
Medienwirkung zugunsten Rechtsextremer gut wären.
2.:
Dieser erregten Menge standen drei Männer entgegen, denen ihr
Job als Polizisten offenbar gebot, sich notfalls überrennen und
auch schwer verletzten zu lassen, denn physisch wären sie den
anstürmenden Leuten keinesfalls gewachsen gewesen.
Ich
hab die Kenntnis diese Situation aus zahlreichen Bildern, Videos
und Kommentaren abgeleitet, die über unzählige Kanäle aus ganz
verschiedenen Quellen kamen. Also durfte ich die Szene unter
„gesicherte Fakten“ reihen.
Herr Qigong ist mit dem Lesen
und Entschlüsseln von Texten eventuell wenig vertraut. Er
schrieb mir: „der Artikel liest sich wie ein
Authentizitätsbericht - da darf ich schon davon ausgehen, dass
hier wirklich erlebt wurde uind nicht zusammenfassend, was
andere zusammenfassend berichtet haben“.
Das
ergibt bezüglich meiner Glosse wenig Sinn und offenbarte sich im
weiteren Dialog als eine Konstruktion, die er brauchte, um seine
übrigen Argumente in Stellung bringen zu können. Bei der
Gelegenheit bog er auch gleich auf das Feld der Theologie ab und
brachte mich mit der Kategorie „Wahrheit“ in Verbindung, die uns
in sozialen Fragen wenig nützt. Da sind wir eher auf
Konsensfindung zwischen divergierenden Auffassungen darüber, was
der Fall, sei angewiesen.
Kurz: „Wahrheit“ überlasse ich
der Theologie, das mag auch Philosophen interessieren, aber Herr
Qigong hat da an etwas ganz anderem gebastelt: „die
Verantwortung über ‚Wahrheit‘ zu schreiben und als solche
gelesen zu werden - ist die große Schwester des Miteinander..“
Sein Hang zur Poesie ist unübersehbar: „Die Wahrheit als
Hure zwangsgeschwängert durch duplizieren und vervielfältigen
ein und der selben ‚Wahrheit‘ ?!“ (Ich rätsle derzeit noch,
was der Satz ausdrücken möchte.)
Herr Qigong sollte dann
später auch zum Thema Nationalismus, Fußbalanhänger oder
Nationalsozialist durchaus poetisches Geschwurbel anbieten, das
verdecken muß: er hat sich zu diesen Themen nicht sachkundig
gemacht. Da kommen dann so Sätze wie „Jedoch ist das Wesen
diametral positioniert“ vor, da sich die neue Bourgeoisie
völlig mit „gefühlten Wahrheiten“ begnügt.
Man muß also
keine Quellen kennen, nicht mit dem Stand schon gelaufener
Diskurse vertraut sein. Man sagt, was man gerade fühlt. So
landet man plötzlich bei einem Fazit der Art, wie es vielleicht
Wanderprediger ausstreuen. Ich denke augenblicklich noch darüber
nach, was folgende Passage bedeuten möchte; Herr Qigong:
„Ich hab jetzt genug gesprochen. Fahren Sie hin, Sie werden
als Interessierter von Vielen vermutlich als Nazi bezeichnet.
Aber wissen Sie was gut daran ist ? Sie erleben die unmögliche
moralisch insistierende Kluft der Ungerechtigkeit die von Einem
zum Anderen geschoben wird. Es ist fürchterlich - diese Wahrheit
zu sehen und zu spüren.“
Aber die Idee „Wahrheit
zu sehen und zu spüren“ ist zumindest eine Referenz an die
subjektive Wahrnehmung. Was dann zum Beispiel journalistische
Sorgfaltspflicht als ein historisch gewachsenes Konzept
verlangt, geht davon aus, daß die subjektive Wahrnehmung nun zur
Debatte stünde, mit anderen Berichten und mit Quellen verglichen
wird.
Er aber behauptet seine Beobachtungen als superior
und meine Glosse als irrrelevant. Kann man machen. Hält aber
keine Überprüfung aus. Auf Tante Friedl gehe ich später noch
ein. Was sie von Herrn Qigong unterscheidet: als Dr. phil.,
Buchautorin, Lehrerin und Politikerin ist sie selbstverständlich
in Fragen des sinnerfassenden Lesens fit. Aber wozu sich mit
Inhalten aufhalten, wenn einige Stichworte genügen, um eine
Tirade auszulösen?
Um es zusammenzufassen: ich bin – wohl mit vielen Menschen –
der Meinung, das Parlament ist ein hochrangiges Symbol der
Demokratie, zugleich physisch ein bedeutender Ort der
Demokratie. Fahnenschwenkende Rechtsradikale unter diesem Dach
fände ich unerträglich. Vor allem, nachdem die Neue Rechte seit
den 1980er Jahren unterwegs ist, quer durch Europa in
Gemeindestuben, Rathäusern und Parlamenten anzukommen.
Drei Polizisten haben dieses Bild verhindert, indem sie ihre
Gesundheit riskierten und die Meute zurückwiesen. Herr Qigong:
„Der Reichstag wurde nicht gestürmt - da beginnt die Problematik
der Manipulation, durch andere.“ Der Ansturm ist mit
Dokumenten belegt, sein Verebben an den drei Männern auch.
Das kann man anerkennen. Oder - wie Tante Friedl - daraus
machen, was einem gerade paßt. Ich hab ja mit keinem Wort
„Diesen Staat nun als lupenreine Demokratie hinzustellen“
versucht, sondern betont, daß uns durch drei couragierte Männer
das Entstehen von höchst problematischem Propagandamaterial
erspart blieb.
Das kommentiert Tante Friedl bei mir so:
„Was ist denn das für ein Schmarrn? Wenn das tatsächlich
stimmt, dass nur drei Polizisten dafür abgestellt waren, ist das
befremdlich und ein Fehler der Exekutive, die normalerweise mit
einem ganzen Pulk aufwartet. Und ja, Nazis sind leider
mittlerweile überall, auch innerhalb der Polizei usw. - und sie
werden viel zu oft vom Staat geschützt. Diesen Staat nun als
lupenreine Demokratie hinzustellen, zeugt von großer Dummheit,
mit der ich genau so wenig zu tun haben will wie mit den
Rechtsradikalen.“
Ich hab noch keine Klarheit, ob
das einen größeren Mangel an Kohärenz oder intellektueller
Selbstachtung zeigt. Herr Qigong schob dann noch ein Beispiel
für Whataboutism nach, schrieb mir: „Zum Abschluss poste ich
noch ein Video. Wissen Sie wie dieses zustande kam ? Was meinen
Sie welche Bedrohung könnte wohl eine schwangere darstellen.“
(„UNFASSBAR! Polizei drückt Schwangere Frau auf den Boden!
Corona Demo Berlin“)
Das „Prinzip Lügenpresse“
ist also längst auch Standard in unserem persönlichen Umgang
miteinander. Da wird nicht auf Aussagen eingegangen, werden
Text, Kontext und Subtext nicht befragt.
Da bringt wer
ein aus der Luft gegriffenes Argument („ der Artikel liest
sich wie ein Authentizitätsbericht“) in Stellung, um die
Meinung eines Andersdenkenden zu diskreditieren. Er betont die
unterschiedlichen Posen, deutet an: „Ich war in Berlin, du
nicht. Was du daher vorbringst, spottet der Wahrheit.“
Das ist ein Äquivalent zu „Lügenpresse“! Halt die Fresse!“
Dissens kommt offenbar nicht in Frage. Das amüsante
Detail: Herr Qigong argumentiert ausführlich, daß seine reale
Anwesenheit in Berlin mehr wiegt, als Berichterstattung via
Medien. Dazu produziert er für mich auf Facebook einen
stattlichen kleinen Text, den ich (seinen Ratschlägen folgend)
eigentlich zurückweisen müßte, denn er ist… Annahme und
Schlußfolgerung via Medien, ist genau das, was er mir mit seinen
Einwänden vorhält. Dieser Text in voller Länge: [Link]
Die Glosse Berlin, August 2020 +) Auf
Facebook +) Als
Tweet (mit Link) +) In meinem
Logbuch +) Bei
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