Verschluckt
(Neue Räume, alte Träume)
Von Martin Krusche
Das Wasser reichte mir bis an die
Kehle, die Urflut umschloß mich; Schilfgras umschlang meinen Kopf. Bis zu den Wurzeln der
Berge, tief in die Erde kam ich hinab; ihre Riegel schlossen mich ein für immer.
So beschreibt der Prophet Jona sein
Befindlichkeit, nachdem er in einem Sturm von ängstlichen Matrosen über Bord geworfen
worden war. Danach verbrachte er drei Tage im Bauch eines Fisches, der ihn schließlich
unverdaut wieder ausspie.
Nicht nur der Hölle Rachen ist geeignet
uns zu verschlingen, tausendfach sind die Möglichkeiten und Phantasien, die einem
Menschen das Verschlucktwerden als alterated state, als veränderten Zustand
zeichnen. Meist in irgend einer Form mit Krise und Katharsis verbunden.
Eine jüngere Variante solcher Geschichte
liest sich so: Ich alte Leiche brauche mein Lachen. sagte Case. Geruch
von kaltem Stahl. Eis umschmiegt seine Wirbelsäule. Dann schwarzes Feuer in
den Nervenverzweigungen; Schmerz, der alles übertraf, das den Namen Schmerz verdient ...
Die Kyberspace-Matrix ist von
knisternder Stille belebt. Subkulturen konnten über Nacht auftauchen
und für ein paar Wochen florieren, um dann jäh von der Bildfläche zu verschwinden.
Die Kultivierung einer gewissen
Paranoia war für Case eine Gegebenheit. schrieb William Gibson über den Held in
seinem Roman Neuromancer. Das Kunststück bestand darin, sie in Schach
zu halten. An anderer Stelle heißt es: Die Angst kam wie ein halb vergessener
Freund.
Die Matrix hat ihre Wurzeln in
primitiven Videospielen, sagte der Sprecher, in frühen
Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden.
... wenn du jetzt einsteckst.
heißt es im Neuromancer. Plug in. Log in. Mit dem Deck. Einem
Ono-Sendai Kyberspace 7. Elektroden auf der Stirn. Ein Katheter in der Hose,
damit man sich nicht naß macht. Geriffelter EIN-Schalter. So geht man ins Silikon.
Lichtzeilen, in den Nicht-Raum des
Verstandes gepackt, gruppierte Datenpakete. Wie die fliehenden Lichter einer Stadt.
Cowboy-Attitüden. Der Lazarus des
Kyberspace. Drei Hirntode hinter schwarzem Eis überstanden. EIS. Elektronisches
Invasionsabwehr-System. Schon mal probiert, ´ne AI zu knacken? Mein
Helfer roch die versengte Haut und zog mir die E-troden von der Stirn.
Diese Fantasien hat der Schriftsteller
William Gibson Anfang der vergangenen 80er-Jahre vorgelegt. Man muß schon ein ziemlicher
Freak sein, um die Matrix aus Neuromancer einladend zu finden. Aber wer je
Gast auf einer Intensivstation gewesen ist, weiß natürlich: diese Szenen aus der Science
Fiction-Literatur, das Genre wurde Cyber-Punk genannt, können genau so eindrucksvoll wie
hier beschrieben zum konkreten Erlebnis werden. Plugged in. Eingestöpselt. Das Atmen von
einer Maschine erledigt. Einen Herzkatheter neben dem Schlüsselbein in die Brust gerammt.
Perfuser injizieren fein abgestimmte Chemie. Elektroden geben Körperfeedback an
Maschinen. Das Fleisch macht sich mit frischen Implantaten vertraut. Die Seele verbirgt
ihren Schrecken. EDV-gesteuertes Leben als veritabler Albtraum zwischen weiß gekachelten
Wänden.
Die jungen Heilsversprechen flackern am
Bildschirm. Neue Räume wurden von der Literatur skizziert und diese Skizzen in den
Werbeagenturen der Konzerne verwertet. Wir vergrößern unsere Silhouetten durch
Informationstechnologie. Körper und Räume als Objekte der Expansion. Die passenden
Wanderprediger haben sich schon etabliert. Auch wenn sie es nicht mehr nötig haben, sich
zu bewegen. Was Paul Virilio den rasenden Stillstand nennt.
Einer dieser Prediger hat in seinem Buch
folgende Annahme formuliert: Durch die neue Technologie werden den Menschen enorme
Ausdrucksmöglichkeiten zuwachsen. So wird das Internet einer neuen Generation von Genies
und allen anderen Menschen ebenso -- ungeahnte künstlerische und wissenschaftliche
Möglichkeiten eröffnen. Eine überaus optimistische Deutung des Hypes, der uns nun
seit rund einem Jahrzehnt beschäftigt. Ich kann die Einschätzung des Autors von Der
Weg nach vorn bisher nicht bestätigen. Vielleicht hat er die Genies ebenso wie die
anderen Menschen etwas überschätzt. Oder sich die ganze Sache zu hübsch
nach den eigenen Interessen zurechtgedacht. Aber wer seine Medizin gut verkaufen möchte,
schreibt ihr eben Nutzen für alle Menschen zu.
An anderer Stelle schreibt der Prediger
Bill Gates: Zum besonderen Charme der elektronischen Welt gehört, daß man allen
Interessierten Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten praktisch zum Nulltarif
zugänglichen machen kann. Lacht hier jemand? Immerhin wäre der heute steinreiche
College-Boy mit solchen Auslassungen ein Anlaß zur Einführung des Nobelpreises für
hochtrabendes Geschwätz. Steht in seinem Machwerk doch zu lesen: Mich schreckt die
Vorstellung eines total dokumentierten Lebens schon ein bißchen, aber andere werden
Gefallen daran finden.
Ruhig Blut! Doppelmoral, gibt der
Zukunftsforscher Matthias Horx zu bedenken, sei eine Strategie, kein moralisches Problem.
Die rationellere, also kostensparende Abwicklung von Verwaltungsvorgängen in einer
Gesellschaft waren hierzulande im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine der
mächtigen Triebfedern des Nationalsimus. Wenn uns also neue Räume zu
verschlucken beginnen, ist es von Vorteil, besonders auf die Bedingungen der Wahrung von
Menschenwürde zu achten. Das vorige Jahrhundert sollte dazu ausreichend Anlaß geben.
Die aktuellen Netzwerke sind uns noch
eindeutige Belege schuldig, daß sie schon allein durch ihr Bestehen der Demokratie die
Fundamente stärken. Solche Technologien zeigen sich häufig als weitläufige Belege der
vulgären Annahme shit happens. Geht es um Fragen der demokratiefördernden
Qualitäten neuer Informationstechnologien, wäre in einem ganz herkömmlichen Sinn auf
die Optionen einer couragierten Zivilgesellschaft zu setzen. Mit zeitgemäßer
Medienkompetenz ausgestattet. Was das inhaltlich bedeuten mag, finde schon im Jahre 1948
überaus präzise formuliert.
Im Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte heißt es zu Meinungs- und Informationsfreiheit: Jeder Mensch
hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen
unangefochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen Verständigungsmitteln
ohne Rücksicht auf Grenzen zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
[core] [reset] |