Spuren
(Einige Gedanken zu Mobilität und individuellen Rechten)
Von Monika Mokre
Vor einiger Zeit habe ich eine
Amerikanerin kennen gelernt, die in Wien ihre Dissertation schrieb und nebenbei sehr
effizient und gezielt nach einer aussichtsreichen Position an einer US-amerikanischen
Universität suchte. Ich war von ihrer Professionalität bei der Jobsuche ebenso
beeindruckt wie von der Tatsache, dass es ihr gelang, in einem recht kleinen akademischen
Feld genau die Stellung zu finden, die sie haben wollte. Erst als ich sie vorige Woche in
den USA wieder getroffen habe, habe ich verstanden, dass die Universität, an der sie nun
arbeitet, ungefähr 3000 km von ihrer Heimatstadt entfernt ist. Das entspricht wohl etwa
der Entfernung, die ich zu meinem derzeitigen Wohnort zurücklegen würde, sollte ich eine
Stelle in Sibirien annehmen. Und ist daher ziemlich eindrucksvoll für jemanden wie mich,
für die schon die Vorstellung eines Umzugs nach Linz eine schwere Krise auslöst. (Und,
nein, ich glaube nicht, dass Eugene, Oregon, sehr viel spannender ist als Linz.)
Die Unterschiede in der persönlichen
Mobilität von EuropäerInnen und AmerikanerInnen sind Teil der Kultur, in die wir geboren
wurden, historisch gewachsene Verhaltensformen, die sich aus der Weite der Vereinigten
Staaten einerseits und den engen Grenzen der europäischen Nationalstaaten andererseits
erklären lassen. Oder auch aus den Grenzen von Staaten, die nicht national gewachsen
waren. Mein Mann hat bis zu seinem 23. Lebensjahr in der DDR gelebt, einem Staat, der
einen Teil einer Nation mit so hermetischen Grenzen umschloss wie sonst kaum ein Land auf
dieser Welt. Als er die DDR verließ, sagte ein Freund von ihm: Ich würde gern mal
sehen, wie du in Wien so lebst. Ich würde dort ohnehin nicht bleiben, was mache ich dort
aber besuchen würde ich dich gerne mal. Doch das war bis 1989 unmöglich.
Seit damals allerdings überschreitet dieser Freund ebenso wie die meisten der
BewohnerInnen seiner Stadt jeden Sonntag Abend die ehemaligen Grenzen der DDR, um in
Westdeutschland zu arbeiten, da es dort, wo er wohnt, für ihn keine Arbeit gibt.
Die Mobilität steigt also nicht
nur im vereinigten Deutschland, sondern auch im noch nicht ganz so vereinigten Europa. Die
(Bewegungs-) Freiheit der EU-BürgerInnen ist eine der Grundfreiheiten der Europäischen
Union und die leeren Häuschen der GrenzbeamtInnen an EU-Innengrenzen sicherlich eines der
eindrucksvollsten Symbole für das geeinte Europa. Doch lässt sich dem Recht auf
Mobilität auch ein Recht auf Immobilität entgegen oder zur Seite stellen? Gibt es auch
das Recht, dort zu arbeiten, wo ich lebe, dort zu bleiben, wo ich mich aufgrund
meiner Geburt, einer bewussten Wahl, eines Zufalls zu Hause fühle, mit meiner
Familie / meinen Freunden / meinen wie auch immer definierten MitbürgerInnen zusammen zu
bleiben? Oder ist das Recht auf Mobilität zugleich oder sogar viel mehr die Pflicht zur
Mobilität - entlang der Routen, die transnationale kapitalistische Wirtschaftsstrukturen
vorzeichnen?
Die EU-Innengrenzen sind nicht nur für
die EU-BürgerInnen mächtige Symbole. Noch viel deutlicher wirken sie auf diejenigen, die
in den Schlangen vor den Durchgängen für Non-EU-Citizens stehen. Unter
anderem wohl deshalb, weil sie sehr viel mehr Zeit haben, sich mit dieser
symbolträchtigen Unterscheidung zu beschäftigen, wenn sie mit dem Pass in der Hand in
der Schlange auf die Abfertigung warten, während einige Meter neben ihnen die Menschen
ungehindert durch die Absperrung gehen. Gibt es also kein Recht auf Mobilität, das
unabhängig von nationalen oder supranationalen BürgerInnenrechten besteht? Hängt dieses
Recht nach wie vor vom Zufall der Geburt oder Abstammung ab, aufgrund dessen in Europa
jetzt nicht mehr nationale Grenzen, sondern EU-Außengrenzen zur Scheidewand werden?
Und dann gibt es noch diejenigen, die auf
dieser Welt weder ein Recht auf Immobilität, noch eines auf Mobilität haben. Die dort,
wo sie bisher lebten, nicht bleiben können, weil sie verfolgt werden oder ihre Kinder
nicht ernähren können. (Die Behauptung, dass der Unterschied zwischen politischen
Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen als moralische Legitimation für das Abschieben
der zweiten Gruppe ausreicht, war immer unerträglich zynisch, insbesondere aus dem Mund
der BewohnerInnen der reichsten Länder dieser Welt. Dieser Zynismus wird allerdings
dadurch nicht besser, dass zunehmend Angehörigen beider Gruppen der Aufenthalt in der
Ersten und Zweiten Welt verwehrt wird.) Und die dort, wo sie hinwollen, nicht aufgenommen
werden. Die ihr gesamtes Vermögen und noch mehr an Schlepperorganisationen gezahlt haben,
die sie dann in den Wüsten an der amerikanisch-mexikanischen Grenze verhungern oder in
der Südsteiermark in die Hände der Gendarmerie fallen lassen. Die in
Deportationsgefängnissen in der EU oder in sicheren Drittstaaten darauf
warten, entweder abgeschoben zu werden oder als Illegale ohne Papiere so lange entlassen
zu werden, bis sie wiederum aufgegriffen und ins Gefängnis zurückgebracht werden. Die in
ihrer Zeit im Gefängnis auch noch Schulden für Kost und Logis an den Staat aufhäufen,
der sie nicht aufnehmen will. Die, wenn sie sehr viel Glück haben, in Wien von einer
Rentnerin aus ihren eigenen Ersparnissen und Spendengeldern betreut werden, weil die
Republik Österreich sich nicht in der Lage sieht, für ihre Ernährung aufzukommen.
Hier allerdings geht es nicht um das Recht auf Mobilität oder
Immobilität. Hier geht es um das Recht auf Leben. Das offensichtlich ebenso
unterschiedlich je nach nationaler Zugehörigkeit beurteilt wird wie alle anderen Rechte,
von denen dieser Text handelt.
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