Cybercity

Sarajevo war während der Kriegsjahre eine mediale Stadt, die nach ihren eigenen Regeln funktionierte und die diese Regeln der Welt vorgab. Wenn der Golfkrieg als der erste virtuelle Krieg der Menschheitsgeschichte gilt, dann existierte mit Sarajevo zwischen 1992 und 1996 die erste und bisher einzige virtuelle Stadt der Erde. Im Gegensatz zu den künstlich initiierten digitalen Zweitstädten wie Amsterdam, Tokio, New York und wie sie alle heißen, war Sarajevo einen ganzen Bürgerkrieg lang von der Außenwelt abgeschnitten und trotzdem wie selbst nie und keine andere Stadt zuvor mit der übrigen Welt verbunden. Medial verbunden. Polydirektionalität via Interspace. Sarajevo existierte Millionen Mal und das gleichzeitig.

Der Ort Sarajevo mutierte langsam zum multiplen Ort Sarajevo. Tausende flüchteten unter Lebensgefahr aus dem eingekesselten Sarajevo, nach Wien, nach Graz, nach München, nach Los Angeles. Sarajevo flüchtete in die Welt, Sarajevo zerstreute sich. Sarajevo, eine entörtlichte Stadt. Der Flüchtling aus Sarajevo in Wien und seine in Sarajevo zurückgebliebene Mutter, die Berliner Journalistin in Sarajevo und ihr Vater in Deutschland, alle hören sie zur gleichen Zeit dieselbe Nachricht von der selben Stimme: „The block of the building of assembly and government of the Republic of Bosnia-Herzegovina will not be rebuilt.“ Sarajevo wurde zur entörtlichten Stadt.

Und zwar nicht nur theoretisch, oder für Freaks, oder als Event, sondern alltäglich, jeden Abend, Über lange Kriegsjahre hinweg, zu Hause in Sarajevo oder sonst wo auf der Welt, vor den TV-Geräten, den Radios oder am Telefon. Informationen konnten mit Hilfe der Medien, im virtuellen Raum empfangen und gesendet werden. Die Menschen in Sarajevo waren Teil dieser medialen Realität, wussten sie von ihr? Sie wussten! Was sie wussten, können wir heute erst erahnen.

Aus "Interspace" von "SPLITTERWERK"


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