"Revisited?"
(Mein Hintergrund)Revisited.
Das bedeutet, ich hab hier schon gelebt. An mehreren Stellen des "Areals 8020".
Das war unter anderem mit einer Hochzeit verbunden, die in eine kleine Wohnung führte,
ebenerdig, ohne Bad, mit einer Toilette draußen im Hausflur.
Da lebten wir in Nachbarschaft einer warmherzigen Frau,
deren ganze Wohnung genau genommen ein bewohnbarer, ziemlich verdreckter Vogelkäfig
gewesen ist. Diese Frau, von der es hieß, daß sie früher bessere Zeiten gesehen habe,
von der ich die Überzeugung gewann, daß wir uns nur zeitweise in einer gemeinsamen
Realität aufhielten, wenn wir uns begegneten, diese Frau schien glücklich zu sein, nun
eine Opernsängerin und einen Schriftsteller im Hause zu haben.
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Sie war überzeugt,
daß es Künstler im Leben schwerer hätten als andere Menschen. Weshalb sie uns materiell
unterstützte. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Zum Beispiel, indem sie gerne mehr Wasser
auf dem Herd erhitzte als sie bloß für sich brauchte. Und uns davon etwas abgab. Oder
sie kochte Nudeln weit über ihren eigenen Bedarf und hängte uns einen Anteil davon in
einem Plastiksäckchen an die Klinke der Wohnungstür. Manchmal machte mein Bruder kurz Station, wenn er von Rotterdam oder Hamburg aus
schwere LKW auf Achse nach Bagdad zu bringen hatte. Durch die Türkei, in der damals ein
Kriegszustand herrschte. |
Ich war jedes Mal völlig verblüfft, wenn
ein mächtiger Schatten das Fenster meines Arbeitszimmers verdunkelte, wenn Michael das
für die Austeingasse viel zu groß dimensionierte Fahrzeug mit sichtlichem Vergnügen
unmittelbar vor dem Haus abstellte.
Dieser Teil der Stadt war Ende der 1970er-, Anfang der
80er-Jahre von bescheidenen Verhältnissen geprägt. Selim ist der Herr einer Tankstelle
am Floßlendplatz und eine Institution gewesen. Auf den Terrains stillgelegter Fabriken
konnte man preisgünstige Arbeitsflächen mieten. Der alte Herr der Lederfabrik Pieber
führte einen bei Interesse persönlich übers Grundstück. In seiner Garage stand eine
verstaubte amerikanische Limousine aus den 1940er-Jahren. Daran waren noch die weißen,
sechseckigen, schwarz geränderten Nummerntafeln aus der Naziära geschraubt.
Ich bin, nachdem ich einige Zeit in Hamburg und Berlin
verbracht hatte, in dieses Viertel zurückgekehrt und hatte in einer alten Schlosserei in
der Neubaugasse billiges Quartier bis zum Abriß des Gebäudes. Es waren Jahre einer
bohemienhaften Existenz mit Jobs in der Statisterie des Schauspielhauses oder als
Blumenkutscher im Lieferwagen einer Gärtnerei.
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Es war die Zeit der
Anfänge dessen, was später als "freie" beziehungsweise "autonome
Initiativenszene" beschrieben wurde. Und ausgerechnet in der Kernstockgasse, also
unter dem Namensschild jenes menschenverachtenden Dichters [LINK], hatte diese erwachsende Szene eine ihrer wichtigsten Basen, das
"Feinkunstwerk & Tingeltangel". |
Wir haben damals, Leute der verschiedenstes
Genres und kaum zufällig weit entfernt vom "forum stadtpark", auf diesem
Terrain die steirische Version eines soziokulturellen Phänomens initiiert. Ich denke, die
"westlichste Position" dieser Szene war Anfang der 80er das "Atelier
Lang" in einem Haus, das längst durch einen Neubau ersetzt ist, an der enorm
belebten Kreuzung von Annenstraße und Eggenberger Gürtel.
Die meisten ProtagonistInnen dieser Szene sind natürlich
in all den Jahren weiter gezogen. Ein anderer Teil hat sich gewissermaßen mit den alten
Konzepten pragmatisieren lassen. Und dazwischen ist vieles geschehen, wovon ich gar keine
Ahnung habe. Heute bin ich dort ein Fremder, ein Flaneur ...
Martin Krusche
[feedback]
P.S.:
Zum Thema "Initiativenszene" siehe: "Legenden ... enden.
Auch."
[Alle Texte zum Projekt: Übersicht]
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