Markante Positionen
(Auffindbar und einnehmbar)Vorweg eine Positionsbestimmung. Was markante Positionen seien, klärt sich
wesentlich im Auge der Betrachtenden, ist also völlig kontextgebunden. Was bringt man
mit, wenn man unbekanntes Terrain betritt?
Wie sich der Faschismus auf die Ästhetisierung von Gewalt
stützt, braucht Sozialromantik die Ästhetisierung von Elend. Beides sind Methoden der
Realitätsverbrämung, in denen vor allem ein politisches Motiv in der Geschichte immer
wieder auftaucht: Maßnahmen derer, die über Definitions- und Ordnungsmacht verfügen,
beziehen Legitimationen daraus, daß die Betroffenen als selbst schuld an ihrer Situation
vorgeführt werden. Heilsversprechen und Conquista brauchen zu ihrem Auftakt ein Gefälle.
Wer also "inferiore Viertel" betritt, um daraus zu berichten, hat in einem
Mindestmaß über seine Intentionen Auskunft zu geben. (Damit man wenigstens klären kann,
ob jemand beim Betreten des Areals der Conquista angehört oder nicht.)
In den Grauzonen der Umdeutung, die jene nicht befragt,
deren Situation gedeutet wird, verfällt Beobachtung leicht in Voyeurismus. Ob der Blick
zum Schauen des Beobachters oder zum Starren des Voyeurs wird, regelt sich, wie schon
angedeutet, über die Intentionen. In unserer Kultur nennt man den absichtslos Schauenden,
der nichts bestimmtes sucht, sondern staunend entdeckt, seit der griechischen Antike
"Theoros"; woher wir den Begriff "Theorie" haben.
Kein Stadtteil kann ausdauerndes Blühen erleben. Außer
vielleicht, er ist der Standort erheblicher Machtkonzentration, die aus ihrer Umgebung
laufend Mittel abzieht. Areale in den Zyklen wirtschaftlicher und sozialer Fluktuation
sind dagegen immer wieder auf neue "Avantgarden des Blühens" angewiesen.
Avantgarden des Blühens formieren sich meist aus Menschen,
deren Sozialprestige eher tief gelagert ist und die für einen Aufstieg auf dieser Skala
zu erheblichen Anstrengungen bereit sind. Daß sich auch Kunstschaffende ganz gerne den
Avantgarden des Blühens zurechnen, ist häufig ein Spiel mit sozialen Codes. Es ist nur
gelegentlich von real sich ereignender Veränderungskraft auf einem Territorium der
Umbrüche gekrönt. Beliebte Legenden, wie die von Soho (Manhattan, "South of Houston
Street"), wo ein Andy Warhol als schon arrivierter Günstling der Reichen
erstaunliche Prozesse ausgelöst hat, sind ein verführerischer Teil urbaner
Mythenbildung, mit dem wir uns zwar abends gut die Zeit vertreiben können. Aber als
Quelle für stadtplanerische Optionen ist dabei zu wenig Fleisch am Knochen.
Wesentlich häufiger (und verläßlicher) reüssieren in
diesem Bereich des Aufschwunges inferiorer Viertel, Menschen, die etwa nach der
Einwanderung die hohen Schwellen der Zurückweisung überwunden haben. Sie schaffen
dadurch in den inferioren Vierteln neue Faktenlagen, oft zum Nutzen der Kommune, selten
mit angemessener Unterstützung von dieser Seite. Bleibt doch diese Entwicklungsleistung
mit den alten Ressentiments konfrontiert. Mit der Forderung, sich eben jenem Modus, jenem
Lebensstil anzupassen, dessen Scheitern im inferioren Viertel ja evident geworden ist.
(Sonst hätten dort die Zuwanderer kaum Platz gefunden.)
Im Kontrast der beiderseitigen Fremdheit zwischen
Alteingesessenen und Neuankömmlingen wurzeln Annahmen von "Exotismus". Die
Annahme des "Exotischen" ist eine Integrationsleistung von Neugier und Abwehr,
letztlich ein räuberischer Akt. Indem man den Avantgarden des Blühens entreißt, was
einem fremd, interessant, nützlich erscheint, sie selbst aber zurückweist, womöglich
aktiv ausgrenzt und desavouiert, ist eine Grundhaltung des Kolonialismus im eigenen Land
realisiert. Eine Art "Binnenkolonialismus", der jene ausbeutet, die er verachtet
und schließlich der Herabwürdigung ausliefert.
Vor dem Hintergrund solcher Annahmen ist der Gang durchs
Viertel als eine Suche nach den markanten Positionen vor allem auch ein Lokalaugenschein
in Sachen Wertschätzung. Die "Zeichen der Prozesse", wie sie sich als kurz-
oder längerfristig in die "Außenhaut" der Stadt einschreiben, haben kulturelle
Relevanz und gelegentlich ganz erstaunliche ästhetische Qualitäten. Letztlich ist es
genau solcher Gehalt, der miterzeugt, was man unter "Spirit" eines Viertels,
einer Stadt verstehen kann. (Ist von "Geist" die Rede, gefällt mir das gut
eingeführte "Esprit" besser ...)
Martin Krusche
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