Input #9 Leiblichkeit,
Realität und Virtualität in semiotischer Perspektive
Von Elisabeth List
Der Cyberspace, in dem sich heute schon
Schulkinder zuhause fühlen, war zunächst eine Erfindung der Science-Fiction. Der Begriff
findet sich erstmals in William Gibson Roman Neuromancer. Vieles von dem, was
William Gibson in seinem Roman beschreibt, ist mittlerweile Realität geworden. Trotzdem
haften den Phänomen des Cyberspace mythische, phantasmatische Züge an. Es ist vor allem
eine Idee, die sich mit den neuen digitalen Technologien verbindet: Das Versprechen, ein
Verschwinden in einer anderen Welt der reinen Taten zu ermöglichen und den Körper als
ein Stück Fleisch zum Implantieren von Chips, irgendwo da unten
zurückzulassen.
Dieser Phantasie, die man kybernetischen Platonismus nennen
könnte, möchte ich versuchen, auf systematische Weise nachzugehen. Ist es im Kern heute
eher ein cartesisches als ein platonisches Modell cartesisch ist nämlich die Idee,
dass sich der Geist vom Körper so trennen lassen, wie der Gedanke einer rein virtuellen
Existenz nahelegt.
Nun ist es intuitiv klar, dass eine solche Trennung von
Geist und Körper weder möglich noch wünschenswert ist. Es wird in meinem Beitrag also
darum gehen, eine Sicht der Beziehungen von Subjektivität und Körperlichkeit, von
Leiblichkeit und Selbst vorzuschlagen, die unseren Erfahrungen angemessener ist.
Als theoretischer Rahmen dafür bietet sich die
Phänomenologie an, einige der von ihr eingeführten Ideen und ihre Weiterentwicklung etwa
bei Alfred Schütz und besonders bei Maurice Merleau-Ponty. Merleau-Pontys Theorie der
Leiblichkeit ist in jüngster Zeit vom Kognitionstheoretiker Franzisko Varela aufgegriffen
und für seine Kritik des radikalen Kongnitivismus genutzt worden, unter Rückgriff auf
Gedanken aus der Tradition des Buddhismus.
In diesem Rahmen sollte es gelingen, die Beziehung von
Selbstsein und Verkörpertsein neu und besser zu verstehen. Ausgehend von der Verbindung
von Körper und Selbst stellt sich die Frage nach dem Subjekt neu und damit auch die nach
dem Ort von Subjektivität. Sie stellt sich auf den Hintergrund des Erbes von Descartes:
Nach Descartes ist die entscheidende Voraussetzung dafür, sich als Subjekt, als Person,
als Individuum mit klaren Grenzen von einem Kontext abzuheben, der nicht subjektiv ist,
die Fähigkeit zu denken und allein diese: cogito ergo sum. Heute betrachtet man in den
Kognitionswissenschaften die Funktion des Denkens als die der Repräsentation (inklusive
Selbstrepräsentation) in Berufung auf ein neurowissenschaftliches Modell: das Gehirn als
Repräsentationsmaschine, mit anderen Worten als eine Art von Computer.
Eben von diesen Voraussetzungen gehen auch die
Cybertechnologien aus, vom Modell der starken KI KI das ist eine
Abkürzung für Künstliche Intelligenz, der zu Folge menschliche Intelligenz und
Bewusstsein algorythmisch erklärt werden können. Die Phänomenologie führte, um die
Fähigkeiten des Bewusstseins die Welt abzubilden, einen neuen Begriff ein, den der
Intentionalität. Intentionalität bedeutet für Brentano nicht im Sinne des alltäglichen
Verständnis dieses Begriffs Absichtlichkeit, sondern Bewusstheit. Franz Brentano
unterscheidet zwischen intentionalen Zuständen und intentionalen Gegenständen, und zur
Kennzeichnung des eigentümlichen ontologischen Status der Gegenstände des Bewusstseins
prägte er den Ausdruck intentionale Inexistenz: Dieser Ausdruck bedeutet
genau das, was man heute Virtualität nennt. Die Gegenstände der Vorstellung
sind nämlich intentional inexistent, das heißt, nicht wirklich da,
sondern nur virtuell als denk-bare Gegenstände.
Dieser Gedanke ist von weitreichenden Folgen für das Thema
Körper und Selbst. Die meisten Dinge, die wir uns vorstellen können, haben diesen
Charakter von Virtualität, die Vorstellungen von unserem Körper und unserem Selbst
eingeschlossen. Das heißt aber nicht, dass es nicht Dinge gibt, die zu unserem Leben
gehören, und die nicht bloß Vorstellungen sind. Virtualität als der ontologische Modus
des Möglichseins ist zugleich ein Phänomen semiotischer Natur. Dazu ein
einfaches Beispiel: es gibt zwei mögliche Arten der Beziehung zu Objekten, eine reale und
eine intentionale. Wenn ich ein Buch in die Hand nehme und ins Regal stelle, dann ist das
eine physische Relation. Das ist die Beziehung des Bibliotheksarbeiters zu seinen
Büchern. Wenn wir in einer Bibliothek, sagen wir, eine rare Ausgabe eines Werkes eines
von uns besonders geschätzten Autors finden, dann ist die Beziehung zwischen uns und dem
Buch ganz anderer Art. Es ist dann in der Sprache der Phänomenologie eine intentionale
Beziehung, denn sie bringt uns viele Dinge zu Bewusstsein, die für jemanden, der nicht
lesen, der die Zeichen des Buches nicht dekodieren kann, unzugänglich bleiben. Es ist
eine Beziehung in unserem Bewusstsein, eine intentionale Beziehung, ontologisch gesprochen
eine Beziehung, die uns als verkörperte Wesen in Verbindung bringt mit dem virtuellen
informationellen Raum, den wir mit dem Titel des Buchs, das wir gerade lesen, assoziieren.
[...] Textauszug!
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(Elisabeth List ist Philosophin und lehrt an
der Karl
Franzens-Universität in Graz.)
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