Mischa Lucyshyn
Draußen, links
123 kleine Geschichten aus dem Untergrund und ohne erkennbaren Zusammenhalt in
bekannt russischem Styl
Auszug für sans frontieres
Am Rand einer mit Wasser gefüllten
Schale hocken einige kleine Gedanken und denken. Plötzlich erheben sich alle gleichzeitig
wie ein Taubenschwarm unvermittelt seine Richtung ändert und entrollen rote
Transparente, auf denen geschrieben steht: Es lebe die Freiheit der Gedanken. Nieder mit
der Dummheit. Die Gedanken werfen die Transparente in das Wasser und reißen sich
Kleiderstücke vom Leib, bis sie splitternackt am Rande der Schale stehen. Dann springen
sie in das Wasser und ertrinken. Alle.
Es ist so, daß dieser ungewaschene Mann
der Karotte schwer im Magen liegt. Sie hat ihn kurz nach zwölf Uhr, sagen wir:
dreiminutennachzwölf mit wenigen Bissen, zum Beispiel vier: Ein Biß der
Kopf. Ein zweiter Biß: Rumpf. Noch ein Biß: Die Arme. Bleiben für den letzten Biß: Die
Beine. Schwupp aufgefressen. Ohne ihn zuvor zu waschen. Nun liegt er in ihrem Bauch
schwer herum. Von Zeit zu Zeit flackert die Flamme der Kerze.
Ein Wort sitzt auf dem Zahn des
Schreibers und nagt am Zucker, der sich in eine Ritze zurückgezogen hat, um ein altes
Lied zu singen. Das Nagen des lästigen Wortes stört den Zucker so sehr, daß er zu
singen aufhören muß und vor Wut depressiv wird. Da die Psychotherapie für in Zahnritzen
verkrochenen Zucker noch der Erfindung durch einen gelangweilten Wiener
Gesellschaftsmenschen und Zahnarzt harrt, kann ihm auch nicht geholfen werden. C´est la
vie.
Beweis für den Satz vom zureichenden
Grunde, einfach und ohne Wurzel: Ein Mann mit schwarzen Lederstiefeln geht in Graz
spazieren. Er stolpert über einen unordentlich verlegten Pflasterstein. Zuerst bleibt er
stehen, hebt kurz die Schultern; dann dreht er sich zu seiner Frau um und schlägt ihr mit
offener Hand mitten ins Gesicht. Die Maronibrater heben synchron die Deckel von ihren
Öfen und geben einander Rauchzeichen.
Der Bauer schießt mit einem Gewehr auf
den Graureiher, aber er trifft nicht. Es stellt sich heraus, daß der Bauer blind ist und
zu großen Teilen des Tages betrunken. Außerdem hat der Bauer noch nie einen Graureiher
gesehen und vor Jahren die Pfingstrosen seiner Frau zu Fetzen geschossen.
Ein Mann taumelt und stürzt auf die
Straße, auf der von den Tritten anderer gedunkelter Schnee liegt. Der Mann wird bleicher
und bleicher, er zerfällt in kleine Kristalle und gerät unter ausgezeichnet geputzte
Stiefel. Es hören die Stiefel das Knirschen des Mannes nicht, schon sind sie um die Ecke
gestapft und über anderen Schnee spaziert.
Ein großes Zittern springt von einem
Körper auf den Nächsten. Die Personen, die in diesen Körpern stecken, nehmen keine
Notiz davon. Eine Krähe, die das Schauspiel von einem Laubbaum aus beobachtet, hält in
jener Bewegung inne, mit der sie begonnen hat, ihren Schnabel an der Rinde des Baumes zu
reinigen. Schließlich ist das Zittern beim letzten Menschen angelangt und kann sich nicht
entscheiden, ob es den Weg zurück antreten soll oder nicht.
Ein Sperling verirrt sich. Er sieht sich
einem schwarzen Loch gegenüber, dem in regelmäßigen Pulsen heiße Luft entweicht:
Nichts sonst, nur in kleinen Wolken sauber portionierte Mengen heißer Luft, nahezu
geräuschlos obendrein. Zuletzt wird der Staunende von einem skrupellosen Kater
hinterrücks überfallen und vollständig verspeist.
Im Shakespeare-Museum zu Oberzeiring
sitzt ein betrunkener Mann mit gräßlichen Bartstoppeln. Er sieht seinem Verstand zu, wie
dieser aus seinem Kopf steigt und die Vernunft hinterdrein schleift. Der Verstand trägt
rote Gummihandschuhe und die Tarnkappe eines Schelmes. Der bartbestoppelte Mann schließt
die Augen und lächelt verloren.
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