naechste horizonte: 12th of october

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Mischa Lucyshyn

Draußen, links
123 kleine Geschichten aus dem Untergrund und ohne erkennbaren Zusammenhalt in bekannt russischem Styl
Auszug für sans frontieres

Am Rand einer mit Wasser gefüllten Schale hocken einige kleine Gedanken und denken. Plötzlich erheben sich alle gleichzeitig – wie ein Taubenschwarm unvermittelt seine Richtung ändert – und entrollen rote Transparente, auf denen geschrieben steht: Es lebe die Freiheit der Gedanken. Nieder mit der Dummheit. Die Gedanken werfen die Transparente in das Wasser und reißen sich Kleiderstücke vom Leib, bis sie splitternackt am Rande der Schale stehen. Dann springen sie in das Wasser und ertrinken. Alle.

Es ist so, daß dieser ungewaschene Mann der Karotte schwer im Magen liegt. Sie hat ihn kurz nach zwölf Uhr, sagen wir: dreiminutennachzwölf – mit wenigen Bissen, zum Beispiel vier: Ein Biß – der Kopf. Ein zweiter Biß: Rumpf. Noch ein Biß: Die Arme. Bleiben für den letzten Biß: Die Beine. Schwupp – aufgefressen. Ohne ihn zuvor zu waschen. Nun liegt er in ihrem Bauch schwer herum. Von Zeit zu Zeit flackert die Flamme der Kerze.

Ein Wort sitzt auf dem Zahn des Schreibers und nagt am Zucker, der sich in eine Ritze zurückgezogen hat, um ein altes Lied zu singen. Das Nagen des lästigen Wortes stört den Zucker so sehr, daß er zu singen aufhören muß und vor Wut depressiv wird. Da die Psychotherapie für in Zahnritzen verkrochenen Zucker noch der Erfindung durch einen gelangweilten Wiener Gesellschaftsmenschen und Zahnarzt harrt, kann ihm auch nicht geholfen werden. C´est la vie.

Beweis für den Satz vom zureichenden Grunde, einfach und ohne Wurzel: Ein Mann mit schwarzen Lederstiefeln geht in Graz spazieren. Er stolpert über einen unordentlich verlegten Pflasterstein. Zuerst bleibt er stehen, hebt kurz die Schultern; dann dreht er sich zu seiner Frau um und schlägt ihr mit offener Hand mitten ins Gesicht. Die Maronibrater heben synchron die Deckel von ihren Öfen und geben einander Rauchzeichen.

Der Bauer schießt mit einem Gewehr auf den Graureiher, aber er trifft nicht. Es stellt sich heraus, daß der Bauer blind ist und zu großen Teilen des Tages betrunken. Außerdem hat der Bauer noch nie einen Graureiher gesehen und vor Jahren die Pfingstrosen seiner Frau zu Fetzen geschossen.

Ein Mann taumelt und stürzt auf die Straße, auf der von den Tritten anderer gedunkelter Schnee liegt. Der Mann wird bleicher und bleicher, er zerfällt in kleine Kristalle und gerät unter ausgezeichnet geputzte Stiefel. Es hören die Stiefel das Knirschen des Mannes nicht, schon sind sie um die Ecke gestapft und über anderen Schnee spaziert.

Ein großes Zittern springt von einem Körper auf den Nächsten. Die Personen, die in diesen Körpern stecken, nehmen keine Notiz davon. Eine Krähe, die das Schauspiel von einem Laubbaum aus beobachtet, hält in jener Bewegung inne, mit der sie begonnen hat, ihren Schnabel an der Rinde des Baumes zu reinigen. Schließlich ist das Zittern beim letzten Menschen angelangt und kann sich nicht entscheiden, ob es den Weg zurück antreten soll oder nicht.

Ein Sperling verirrt sich. Er sieht sich einem schwarzen Loch gegenüber, dem in regelmäßigen Pulsen heiße Luft entweicht: Nichts sonst, nur in kleinen Wolken sauber portionierte Mengen heißer Luft, nahezu geräuschlos obendrein. Zuletzt wird der Staunende von einem skrupellosen Kater hinterrücks überfallen und vollständig verspeist.

Im Shakespeare-Museum zu Oberzeiring sitzt ein betrunkener Mann mit gräßlichen Bartstoppeln. Er sieht seinem Verstand zu, wie dieser aus seinem Kopf steigt und die Vernunft hinterdrein schleift. Der Verstand trägt rote Gummihandschuhe und die Tarnkappe eines Schelmes. Der bartbestoppelte Mann schließt die Augen und lächelt verloren.

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