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(Religion, Österreich, Steiermark, Bezirk Weiz, Gleisdorf) Portrait: Karlheinz Böhmer /
evangelischer Pfarrer Das Pfarrhaus, die Villa Sullivan, ist ein Stück Sozialgeschichte der Stadt. Es erzählt von jemandem, der im 19. Jahrhundert fortgegangen ist, um sich neue Möglichkeiten zu erschließen, der Erfolg hatte und wieder heim kam. Böhmer hat das Frühstückstischchen auf der Veranda gedeckt. Er mag diesen Platz, denn da sehe ich auf beide Kirchen, sagt er augenzwinkernd. Es wird mir kräftiger Tee serviert. Wie in Böhmers Heimat, dem hohen Norden Deutschlands, üblich. Ostfriesen trinken fünf mal am Tag Tee. Einst konnte man das Moorwasser kaum trinken, es war nur mit Teeblättern genießbar. Vor dem Einschenken kommt ein Stück Kandiszucker (Kluntje) in die Schale. Dazu gibt es heute feine Bäckerei. Das ist nicht Alltagsbrauch. Wenn ich Zeit habe, beginne ich den Tag gerne mit Zeitunglesen. Die Lektüre der Bibel ist für Böhmer selbstverständlich. Er gehört der Gemeinschaft Kleine Brüder vom Kreuz an. Da pflegt man weltweit zum selben Zeitpunkt des Tagesablaufes die gleiche Bibelstelle zu lesen. Das betrachtende Gebet und Meditation führen zur jeweiligen Tageslosung. Sonntags hält er es etwas anders. Da lese ich in der Früh vor dem Gottesdienst viele Zeitungen. Das tun die Menschen ja auch. Ich beginne dann oft meine Predigt mit einem Zeitungszitat. Das Lesen hat in der evangelischen Kultur hohen Stellenwert. Zu Martin Luthers nachhaltigem Wirken gehört, daß er die Bibel aus dem Lateinischen, der Sprache der Gelehrten, ins Deutsche übersetzt hat. Böhmer betont: Jesus fordert, man soll zwischen den Zeilen lesen. Das ist im übertragenen Sinn gemeint. Denn zu Jesu Zeiten hatten die meisten Menschen keine Schrift. Jesus hat Bilder gebraucht, Gleichnisse. Man müsse die Bilder und Geschichten übersetzen. Christentum ist nicht Partei, aber grundsätzlich politisch, sagt Böhmer. Was darauf hinweist, daß Jesus nicht als Privatperson gelebt hat, sondern sich der sozialen und politischen Situation seiner Zeit mehr als kritisch, streitbar gewidmet hat. Glauben und Leben bedingen sich gegenseitig. Für Böhmer sind Spiritualität und Alltagsleben untrennbar verknüpft. Das ist für mich Politik. Daß wir eine Verantwortung für die Schöpfung haben. An einem Bücherregal im Haus habe ich einen Südwester entdeckt, einen Hut, wie ihn Seeleute bei schlechtem Wetter verwenden. Böhmers Großvater hatte einer Rettungsmannschaft angehört, die anderen aus Seenot half. Und war dabei ums Leben gekommen. Eine bemerkenswerter Aspekt in einer Familengeschichte, vielleicht richtungsweisend. Binneneuropäer haben in der Regel keine Vorstellung, welch enormen Mut und welche physische Kraft es braucht, bei stürmischer See vom Ufer abzustoßen, statt ins Trockene zu rennen. [Andere Portraits] [Martin Krusche: Home] |