martin krusches [flame] logbuch / blatt #80


Der Pirutsch
Ein Grazer Laufrad anno 1784?

Die moderne Fahrzeuggeschichte hat anfangs viele Begriffe und Motive aus der Welt der Kutschen bezogen. Das reichte bis zur Motorkutsche von Daimler, die eben eine motorisierte Kutsche war. Kutschenformen wie das Coupé, das Landaulet oder die Berline sind bis heute begrifflich in der Automobilwelt erhalten. Auch das Fahrrad war einst davon berührt. In seiner historischen Entwicklung erhielt es etwa den Spitznamen „Fußkutsche“, wurde in manchen Texten auch Wagen genannt.

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Wolfgang Wehap 2013 bei der „Velo Gleisdorf“

Im September 2013 hielt Publizist Wolfgang Wehap im Rahmen der „Velo Gleisdorf“ [link] einen Vortrag zur Geschichte des Fahrrades. Dabei zeigte er uns eine frühe deutschsprachige Quelle zum Thema, die Königlich privilegirte Berliner Staats- und gelehrte Zeitung in der Ausgabe vom 25. März 1784.

Darin ist eine Notiz mit „Gräz, den 6. März“ betitelt und erzählt, ein „Hr. Philipp Ignaz Drexler allhier hat nun schon den zweyten Wagen fertig“, der ohne Pferd zu fahren sei. „Dieses Pirutsch hat 2 Räder, welche der Fahrende inwendig nach und nach nur mit den Füßen zu treten hat“. Die Notiz verrät ferner: „Der erstere Wagen wurde für 20 Ducaten verkauft.“ Wehap entdeckte den „Pirutsch“ auch in Meyers Konversationslexion von 1894.

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Königlich privilegirte Berliner Staats- und gelehrte Zeitung, 1784

Ich bin zu diesem Begriff im Brockhaus (Brockhaus in Leipzig, Berlin und Wien, 14. Auflage, 1894-1896) fündig geworden: „Barutsche (Birutsche, wienerisch Pirutsch, vom ital. baroccio), zweiräderiger leichter offener Wagen; Pirutschade, noch gegenwärtig in der österr. Hofsprache angewandter Ausdruck für Spazierfahrten der kaiserl. Familie und ihrer Gäste in den Parks von Schönbrunn oder Laxenburg.“

Hofsprache. Das brachte mich auf eine andere Fährte. In der Kaiserlichen Wagenburg Wien [link] befindet sich ein prächtiges, allerdings vierrädriges Exemplar, das zeigt, was man sich unter einer „Pirutsche“ vorstellen kann. Es ist ein Fahrzeug des Kaiser Franz I., das in der Ausstellung „Der Kongress fährt. Leihwagen, Lustfahrten und Luxus-Outfits am Wiener Kongress 1814/1815.“ (18. September 2014 bis 9. Juni 2015) gezeigt wird.

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Pirutsche (Foto: Kaiserlichen Wagenburg Wien)

Das paßt übrigens eigenartig zum Motiv 1914-2014, denn der Rückblick auf die Schüsse von Sarajevo betont Ereignisse, deren Fundament 1814 gezimmert wurde. Zur Ausstellung heißt es: „Vor 200 Jahren war Wien für acht Monate das Zentrum der Welt: Am Wiener Kongress (18.9.1814 – 9.6.1815) versammelten sich Monarchen, politische Entscheidungsträger und Lobbyisten aus ganz Europa, um die Welt nach dem Sturz Napoleons neu zu gestalten.“

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Pirutsche (Foto: Kaiserlichen Wagenburg Wien)

Diese Pirutsche läßt erahnen, wie weit das Volk von Fahrzeugen zur individuellen Mobilität noch entfernt war. Equipagen verusachten horrende Kosten in Anschaffung und Erhaltung. Zur Zeit dieses eleganten Luxusfahrzeuges dämmerte aber mit dem Laufrad schon eine soziale Revolution herauf...

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