kunstraum.gleisdorf: Neue Räume


Fingerzeige des Zufalls
(Die Serendipity-Galaxis oder was die drei Prinzen aus Sri Lanka im digitalen Zeitalter zu finden hoffen)
Von Beat Mazenauer

"Experience is not what happens to a man.
It is what a man does with what happens to him."
(Aldous Huxley)

Der Mensch des neuen Jahrtausends verfügt souverän über die Wirklichkeit. Er bewegt sich nicht mehr in der Welt, sondern die Welt bewegt sich um ihn. Wenn er von seinem Computerterminal aus die Modem-Auffahrt nimmt, erschliesst sich ihm das World Wide Web als riesige Shopping Mall und Nachrichtenbörse. Über breite Datenautobahnen kommuniziert er global. Der "Information Superhighway" ist die evidente Metapher für die Wissensgesellschaft des neuen Jahrtausends.

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Wer sich heute in dieses weltumspannde Verkehrssystem einloggt, wird freilich gerne enttäuscht. Der unendliche virtuelle Hyperraum, den breite Informationsbahnen durchpflügen und der durch ein Linkleitsystem übersichtlich strukturiert sei, erweist sich in der Praxis als undurchschaubares Gewusel mit Verkehrsstaus und schlecht gewarteten Wegweisern. Verheissung und Wirklichkeit widersprechen sich fast wie im richtigen Leben. Und bei genauem Hinsehen erweist sich die emphatisch beschworene Metapher vom "Information Superhighway" als eine ziemlich alte Idee.

In den Jahren 1853-70 liess der damalige Präfekt von Paris, Georges Eugène Baron Haussmann, ein System von breiten Boulevards anlegen, um im Namen des dritten Napoléon-Kaisers Repräsentation und Nützlichkeit miteinander zu verbinden. Die Nützlichkeit bestand vornehmlich darin, den Barrikadenbau durch aufrührerische Elemente zu erschweren und den Einsatz von grobem militärischem Geschütz bei der Niederschlagung der Austände zu gewährleisten. Dafür opferte Haussmann gerne ein paar verwinkelte, kotige Quartiere.

Von daher betrachtet verrät die Datenautobahn Ähnlichkeiten mit dieser grosszügigen Denkweise des 19. Jahrhunderts. Die Quelle des globalen Kommunikationsnetzes entspringt dem gleichen militärischen Erfindergeist: das kalte-kriegerische ARPA-Verteidigungsnetz. So erstaunt es nicht, dass selbst bei gewandeltem Nutzen die Fürsprecher des Internets aus logistisch-taktischem Kalkül eine Transparenz und Übersichtlichkeit vorgaukeln, die mehr auf Wunschdenken denn auf Praxis basiert. Zumindest an der Oberfläche gleicht das World Wide Web einem kleinteiligen Stadtquartier ausserhalb der breiten Boulevards. Wer sich hier bewegt, schlängelt sich durch unübersichtliche Bezirke, bereit für das Unerwartete: das überraschende Angebot oder den räuberischen Überfall. Wer sich in solchen Gegenden bewegt, weiss zwischen Strasse und Weg zu unterscheiden, wie Walter Benjamin mit Blick auf Paris festgehalten hat. "Der Weg führt die Schrecken des Irrgangs mit sich... In den unberechenbaren Wendungen und Entscheidungen der Wege ist noch heute jedem einsamen Wanderer die Macht alter Weisungen über wandernde Horden spürbar. Wer aber eine Strasse geht, braucht scheinbar keine weisende, keine leitende Hand. Nicht im Irrgang verfällt ihr der Mensch, sondern er unterliegt dem monotonen, faszinierend sich abrollenden Asphaltband." (Das Passagenwerk)

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Die Faszination des Internet besteht gerade darin, dass es sich dem logistisch-taktischen Kalkül widersetzt. Netz-Surfen ist ein gestischer Akt, der dem Netz-User in einem Gewirr von schmalen Wegen und Pfaden permanent Entscheidungen abfordert, mögen sie zuweilen auch mechanisch vollzogen werden. Der "Information-Superhighway" ist pure Ideologie. Tatsächlich gibt es eine breite, effiziente Datenautobahn, doch diese führt durch die abgeschottete Kanalisation. Das Internet ist unterminiert von der totalitären Verwaltung leistungsfähiger Maschinen, die Daten sammeln, Profile erstellen, kontrollieren, verknüpfen und verkaufen. Um diesen digitalen Verdauungstrakt zu verschleiern, repräsentiert sich das Internet-System in breiten Eingangsportalen und glitzernden Shopping-Auslagen. Wer sich hier umtut, wird freilich nur suchen, was alle finden: Porte Microsoft, AOL-Avenue.

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Kreativer und gewinnbringender ist es, das Internet auf verschlungenen Pfade zu durchforsten, die ihre Geheimnisse nur dem wachsamen, kreativen Blick offenbaren. Es braucht dafür Glück und Geist – oder in einem Wort: "Serendipity".

Dieser Begriff – so etwas wie ein heimliches Zauberwort für die Netzgemeinde – geht zurück auf eine Erfindung des englischen Schauerromantikers und Schriftstellers Horace Walpole (1717-1797). In einem Brief an seinen Freund Horace Mann schrieb er am 28. Januar 1754, dass er einen Talisman gefunden habe, mit dessen Hilfe er in Büchern auf Anhieb finde, was er suche: dieses Phänomen nenne er "Serendipity", nach dem persischen Märchen "Die drei Prinzen von Serendip". Diese machten "immerfort Entdeckungen durch Zufälle und Scharfsichtigkeit [discoveries by accidence and sagacity], und das an Gegenständen, nach denen sie gar nicht gesucht haben."

Tatsächlich lässt sich der Begriff "Serendipity" auf dem Internet in zahllosen Variationen wieder finden: von methodischen Theorien bis zu methodistischen Heilsversprechen wird alles mögliche damit in Zusammenhang gebracht. Dabei erweist er sich als ausserordentlich biegsam und vielseitig, in seinem Kern jedoch besagt er stets dasselbe: Ich stosse zufällig auf etwas, was meine sinnliche Aufmersamkeit erweckt und meinen Geist zu kreativen Interpretationen / Entscheidungen anregt.

Seine Worterfindung hat Walpole, wie erwähnt, von einem ebenso schillernden wie gewitzten Märchen aus den "glücklichen Zeiten, als die Könige noch Philosophen waren" abgeleitet. Es stammt aus der Feder des persischen Dichters Amir Khusrau (1253-1325) und wurde 1719 von einem Chevalier de Mailly ins Französische übertragen. Darin wird von drei Prinzen aus dem Lande Serendip (dem heutigen Sri Lanka) erzählt. Damit sie ihre ausgezeichnete Bildung fern von zu Hause vervollkommnen, sind sie von ihrem geliebten Vater des Landes verwiesen worden.

Auf ihrer Wanderschaft begegnen sie eines Tages einem Kameltreiber, der eines seiner Tiere verloren hat. Auf dessen Frage, ob sie es gesehen hätten, antworten die Drei mit Nein, obgleich sie das lahme, halbblinde und bucklige Kamel exakt zu beschreiben vermögen. Dies weckt beim Fragesteller die Vermutung, dass die Angefragten das Tier gestohlen haben könnten. Dafür verklagt er sie und lässt sie ins Gefängnis werfen. Das Kamel freilich hat sich bloss in der Wüste verirrt, wo es von einem Nachbarn des Kameltreibers wieder aufgefunden wird. Demnach unschuldig werden die drei Prinzen freigelassen und vom Fürsten des Landes zu sich gebeten, damit er den Grund für ihre Hellsichtigkeit erfahre. Sie antworten ihm mit folgenden Worten: [...]

(Textauszug! Volltext als RTF-File HIER.)
Siehe auch: "Vishnus Inkarnationen auf dem Desktop"
oder: Eine Reise durch den virtuellen Erzählraum von Homer bis Snow Crash
Beat Mazenauer


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