sankt petersburg: journal #2
Kebab

Am Mittwoch an den einzigen Kebab-Stand in Gleisdorf. Weil ich diese Art Fast Food allem anderen schnell gebratenen Zeug vorziehe. Der Mann hatte mir verraten, daß er die Fleischfuhre auf dem Spieß in seinem Wintergarten zur Zeit täglich um drei Uhr morgens brate, damit er der akuten Tageshitze nicht so hart ausgesetzt sei. Ganz anders lief das bei einem Bäcker im Ort, von dem ich angenommen hatte, er würde die Hitze verfluchen. Der sagte aber, nun könne er in der Backstube endlich Fenster und Türen aufmachen, wodurch er bei der Arbeit endlich wesentlich bessere Luft habe als im Winter. Man weiß eben oft nicht, was man sieht, wenn man flüchtig hinsieht. Ich war noch völlig ahnungslos, wie sehr mir das in Rußland widerfahren würde.

Der Kebab-Stand ... Im kleinen TV-Gerät über dem Kühlschrank lief die Übertragung des Halbfinale-Matches zwischen Brasilien und der Türkei. Weltmeisterschaft. Für Fußballenthusiasten eine sehr ernste Angelegenheit. Ich fragte den Mann am Griller, wie es für die Türkei aussehe. "Ist mir egal. Ich bin für Brasilien." Meinen erstaunten Blick quittierte er so: "Ich bin Kurde." (Autsch!) Während der Sportreporter uns angesichts eines Fouls und heftiger Gesten zweier Spieler wissen ließ, man könne sich eben auch verständigen, wenn der eine kein Brasilianisch und der andere kein Türkisch verstünde.

Ich nahm mir vor, zuhause meinen Brockhaus zu konsultieren, um herauszufinden, was es mit der Sprache "Brasilianisch" auf sich habe. Gefühlsmäßig würde ich das Land vor allem mit Portugiesisch in Verbindung bringen. Aber das ist vielleicht Ausdruck einer antiquierten Dünkelhaftigkeit. Wo niemand aus Kunst oder Politik weltweit berühmter ist als Popstars, wo die populärsten Popstars aber in der Beliebtheit jederzeit von einigen Fußballern übertrumpft werden, muß ein Fußballreporter ja irgendwie recht haben. Können. Dürfen. Was weiß ich. Ich bin ja mit Bildungsidealen aufgewachsen, die gelegentlich für Gelächter sorgen. In der vorhin angedeuteten Dünkelhaftigkeit eines Kleinbürgerkindes habe ich manche Versprechen unserer Kultur sehr ernst genommen.

Ich glaube mich zu erinnern, daß die Türken aus dem Semifinale flogen. Was den Kurden in seinem Kebab-Stand das brutale Arbeitsklima versüßt haben mag. Zu der Zeit hatte Erwin Posarnig in Wien gerade die Visa für Rußland beschafft. Wir trafen uns abends in einem chinesischen Lokal am Rande Gleisdorfs. Und waren uns einig, daß man all die Fremden im Land nur auf Knien anflehen könne, uns mit den Österreicherinnen und Österreichern nicht alleine zu lassen. Aus weit mehr denn bloß kulinarischen Gründen.

Wobei Posarnig plötzlich auffiel, daß er seine Jacke vermutlich in einem italienischen Lokal in Wien hatte hängen lassen. Auf einer Sessellehne. Auf der Straße. Mit all seinen Papieren, dem Geld, den Kreditkarten, dem Paß, dem Flugticket nach St. Petersburg. Es schien für einen Augenblick, als würden ihm vor Kummer spontan die Haare ausfallen. Nach einigen Telefonaten war klar, daß jemand die Jacke an die Eingangstür der Pizzeria gehängt hatte, daß nichts fehlte.

Langsam rüttelten sich die Dinge wieder zurecht. Vor jeder Reise springt in mir etwas Beharrendes an. Etwas das überrannt sein will.

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Neues Territorium in Gleisdorf.

Posarnig in der Schwebe. Chinesisches Gedeck.

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