sankt petersburg: journal #1
Die großen Hitze

Die Tage der großen Hitze, von der es hieß, in keinem Juni seien bei uns je die Temperaturen so hoch gewesen. Niemals. Manche lieben das. Ich nicht. Unterm Dach. Am Computer. Das sind Zustände am Rande von Verzweiflungen. Gewöhnlich packe ich in solchen Tagen mein Zeug und setze mich unter die hohen Bäume im Stadtpark. Keine Hitze, die ich dort je erlebt habe, durchdringt die Kronen der mächtigen Bäume. Dies waren Tage zunehmender Virenattacken im Web. Ich hätte alle Stecker ziehen sollen. Ich hätte an thermische Probleme im Rechner denken sollen. Und alle Deckel des Gerätes abschrauben. Ich hätte ... und ich hatte wenigstens das neue Album von Van Morrison. Eine tröstliche Anschaffung. Down the road ...

Als mein EDV-System zusammenzubrechen begann, waren einige Gigabyte meiner Datenbestände ungesichert. Die Marotten eines alten Gauls, der sich mit allen Wassern gewaschen fühlt und die Ängste der "Newbies" oder ihre Art von Gedankenlosigkeiten belächelt. Nun hatte ich mich in den Schaufeln der Mühle verfangen wie ein blutiger Anfänger. Also blieb mir der Weg in den Stadtpark, unter die hohen Baumkronen verwehrt. Also war ich unter dem Dach an diese überhitzte Situation gekettet. Wie ein Affe in der Reisfalle. Dieses alte Primatendilemma. Der Affe hätte nur den gefaßten Reis auslassen, die geballte Hand öffnen müssen, um aus dem schmalen Loch in der Kokosnuß freizukommen.
Ich hätte bloß diese paar Gigabyte meiner Datenbestände auslassen müssen. Aber ich bin leider weitgehend frei von Vorahnungen. So habe ich nicht geahnt, daß ich diese Stoffe ohnehin verlieren würde. Die andere Seite des Primatendilemmas ist eine aggressive Mischung aus Wut, Demut und Zuversicht. Man hält die Faust geballt und bleibt in der Kokosnuß stecken. Wie der zerzauste Held einer griechischen Tragödie wußte ich nichts von der Vergeblichkeit meiner Mühen. Ich hätte ebenso gut für eine Woche ans Meer fahren können, um über das Leben nachzudenken.

Statt dessen hab ich erwogen, meinen Rechner in der Badewanne zu versenken. Jürgen Kapeller, der ein beunruhigend zielsicherer EDV-Wizard ist und gelegentlich hilfreich eingreift, bevor ich mich zu größeren Dummheiten aufraffe, erzählte mir von einem Holzfäller, der sich rasend an einigen Bäumen abplagte, um mit der Arbeit zu Ende zu kommen. Dabei, so meinte der Holzfäller, würde ihm einfach die Zeit fehlen, seine Säge zu schärfen. Ich fürchte, in dieser Geschichte steckt irgendwo eine Moral. "Just like a morning in may like this, see the heather on the hill", singt Van the Man. Und ich kenne dieses Bild sehr gut. Wenn ich mich mit meiner 750er irgendwo ins Outland raufwuchte, um an irgendeinem Wegesrand zu stranden. Um zu spüren, daß alle Brüche längst verheilt und alle Wunden geschlossen sind: "There´s a place up on the mountain side, where the world is standing still ..."

Der Holzfäller. Die stumpfe Axt. Dazu fiel mir eine Frau ein, die mir erzählt hat, sie habe sich ein sehr interessantes Buch über Zeitmanagement gekauft. Aber sie komme einfach nicht dazu, es zu lesen. Ich denke, wir fühlen uns immer sehr schlau, wenn wir solche Geschichten hören. Oder erzählen.

Unter solchen Momenten habe ich die quälendste Junihitze aller Zeiten unter dem Dach verbracht, um meiner Anlage Stoffe zu entreißen, von denen das meiste vor meinen Augen ins elektronische Nichts verflog. Für wenige Tagen darauf war mein Liftoff Richtung Rußland angesetzt. Höchste Zeit, nun in harte Kontraste reinzugehen.

Am Montag brach die Hitze endlich. Ich bin ein passabler Theoretiker. Wie es scheint. Über das Web und die neue Mediensituation hatte ich oft geschrieben, dies alles beruhe vor allem auf Redundanz und Dezentralität. Ich hätte das selbst beherzigen sollen und meine Anlage entsprechend einrichten. Ich hätte meinen wuchtigen chinesischen Ventilator auf den Computer statt auf mich richten sollen. Ich bin so oft erst hinterher schlauer und bestaune jene Menschen, die mir weismachen, daß ihnen meist alles gelingt.

Nachdem ich mit Kapeller noch mal die Maschine umgedreht hatte, war die Hitze endlich vorbei. Die neu aufgesetzte Maschine ist nun richtig schnell. Was man leicht vergißt, wenn man zu lange an einem System hängt. Wie sehr sich das Werkzeug abnutzt. Der Holzfäller und die geschärfte Säge. Die Datenverluste führen zu sehr geselligen Momenten. Wenn man die Menschen um sich herum anmailt, sie um Reste eigener Bestände bittet, die da und dort noch erhalten sein könnten. Ich bin nicht sonderlich geübt darin, jemanden um etwas zu bitten. Jede Gelegenheit nützt. Ich ging von einigem Ballast befreit die nächsten Schritte Richtung St. Petersburg.

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Eines meiner Open Air-Büros in der Oststeiermark.

Kapeller haut dem Teil die Brechstange in die Eingeweide.

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[30/02]