[14•2000]

Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

20) Städte der Zuflucht

Als ich mit einer Russisch-Dolmetscherin den Dichter Yadrar Abid am Grazer Flughafen Thalerhof begrüßte, fiel mir Osip Mandelstams Sehnsucht nach Weltkultur ein, sein poetischer Einspruch gegen die Hilflosigkeit, mit der uns jetzt dieser kleine, verschüchterte Mann in der Flughafenhalle gegenüberstand. Es war der 25. Juni 1997: Abid, in Usbekistan mit dem Tod bedroht, war über Moskau nach Österreich gekommen und bat um politisches Asyl. Er begrüßte uns herzlich, redete aber wie abwesend. Vor ihm auf dem Boden lag ein alter, geflickter Seesack. Wie dieser Seesack war der Flüchtlingskörper neutral, mobil und verfügbar geworden.

Ich half ihm, den Seesack über die Straße zu tragen. Yadrar Abid war entkräftet und blaß, duckte sich und schaute sich ständig um, zitterte und hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Später sagte er, wie erschrocken er darüber gewesen sei, ohne Vorsichtsmaßnahme über eine Straße zu gehen. In Moskau, wo er zuletzt auf seiner Flucht vor dem usbekischen Geheimdienst untergetaucht war, hätte er sich kaum aus dem Zimmer gewagt.

Wir standen in der Tür seiner künftigen Wohnung. Noch bevor ich sie ihm zeigen konnte, zog er zerknüllte Papiere aus dem Jacket und hielt sie uns aufgeregt entgegen. Wir erkannten darin seinen Rotkreuzpaß, Bittschreiben des russischen PEN und der österreichischen Botschaft in Moskau sowie auch russische Zeitungsausschnitte. Dann leerte Yadrar Abid hastig den Inhalt seines Seesacks auf den Boden, kleine broschürte Bücher, die er als einziges Hab und Gut ins Exil mitgenommen hatte. Verzweifelt versuchte uns dieser Mann zu beweisen, daß er der war, dem wir Zuflucht zu schenken bereit wären: der Dichter.

Im Brief von Andrej Bitow war sein Name als Yadgar Abidov (Obid) angegeben, Dichter und Übersetzer aus Taschkent. Während der Identifikation vor der Fremdenpolizei, dem Melde- und Asylamt brachten wir ihn jedesmal in Gefahr, weil wir nicht wußten, wie er eigentlich hieß: Yadrar Abid, auch Jadgar Abid, Yadrir Abidov, auch Jodgor Obidov oder Yadrir Obid. Er besaß keinen Paß, nur ein behelfsmäßiges Dokument des Roten Kreuzes. Laut Brief des russischen PEN hatte ihm der usbekische Geheimdienst während eines nächtlichen Überfalls in Moskau sämtliche Dokumente geraubt. Hierauf war Abid mitgeteilt worden, die Dokumente wie seine ebenfalls beschlagnahmten Manuskripte würden in einem Safe des Geheimdienstes aufbewahrt. Seitdem war sein Name in ein sprachliches Niemandsland gefallen, zwischen seiner Muttersprache Usbekisch, einer Turksprache, und dem Russischen, der früheren sowjetischen Amtssprache in Usbekistan. Abids Flucht von Taschkent nach Aserbeidschan, weiter nach Rußland und schließlich nach Österreich hatte aus seinem Namen ein beliebiges Buchstabenmuster gemacht.

Unfähig zu verstehen, was die Verfremdungen seines Namens für Abid bedeuteten, vollstreckten wir seine absurde Tragödie: auf seiner Flucht vor seinen Verfolgern in einem kulturellen Kontext gelandet zu sein, in dem er tatsächlich ein Niemand geworden war.

Yadrar Abid lebt heute – im Herbst 1998 – als poet in residence in Österreich. Inzwischen als politischer Flüchtling anerkannt, besitzt er einen Fremdenpaß und darf sich in allen Schengenstaaten frei bewegen. Das Asyl gilt auf unbegrenzte Dauer. Seine Frau und seine beiden Töchter leben weiterhin in Taschkent. In Graz erscheint ein Buch mit deutschen Übersetzungen seiner Gedichte.

Abids Flüchtlingsleben hängt auch mit der Geschichte einer Institution zusammen, die 1993 als Internationales Schriftstellerparlament in Straßburg gegründet wurde. Dieses Parlament der Intellektuellen hat sich mit der Schaffung eines Netzwerkes der Zufluchtsstädte zur Aufgabe gemacht, in Zusammenarbeit mit dem Europarat bedrohte Autoren vor Verfolgung zu schützen. Durch Yadrar Abid, den ich am Grazer Flughafen als Gast des Netzwerkes begrüßt hatte, begann ich zu verstehen, was Wolf Lepenies mit einer Politik der Mentalitäten fordert: eine Politik, die den vielfältigen Mentalitätsbrüchen Rechnung trägt, ja einen Wandel der Mentalitäten fördert, einen Wandel, der für viele längst dramatisch notwendig geworden ist, um neue Lebensstile, Handlungsperspektiven und Zukunftshaltungen zu finden. Eine Politik der Mentalitäten muß auf die Phänomene der Informationskultur ebenso reagieren wie auf die Erfahrungen der Migranten, Flüchtlinge und Einwanderer: auf die Befindlichkeiten von Bewohnern einer Welt, in der das Fließband und die klassische Kolonie nicht mehr die Lebenswirklichkeit bestimmen.

Hat nicht die Informationsgesellschaft, ihr Hang, unterschiedliche Bedeutungs- und Handlungsebenen zu durchmengen, Salman Rushdies Leben gerettet? Sein Name ist heute Symbol für eine Kultur der Durchmischung und des Bestehens auf universelle Menschenrechte. 1994 bot die Stadt Straßburg dem mit dem Tod bedrohten indisch-englischen Autor mit dem Asyl auch das Bürgerrecht an. Rushdie, gerade zum Präsidenten des Schriftstellerparlamentes gewählt, bedankte sich mit einer Charta der Unabhängigkeits-Erklärung, dem Anstoß zur Gründung eines Netzwerks der Zufluchtsstädte.

Ist unsere global vernetzte Welt nicht schon im Begriff, mobile Staaten zu bilden, die künftig – ähnlich der mobilen Existenz eines einzelnen Menschen – ihre Grenzen flexibel gestalten werden müssen? Sind nicht zukünftig Staaten wie Hausboote zu denken, mit denen man – Hab und Gut auf Deck – die Welt befährt? Fällt nicht einer postnationalen Stadtkultur die Aufgabe zu, die verbliebene Grenze im Fluß der Lebensgeschichten von Menschen zu sein, die es mehrmals in ihrem Leben in die Fremde verschlägt? Werden nicht künftig Bürgerrechte nicht mehr Staatsbürgerrechte, sondern Stadtbürgerrechte sein müssen, Citizenships, flexibel dem Aufenthalt ihrer Bewohner nach zugesprochen?

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Dies ist ein Textauszug!
Das vollständige Kapitel
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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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