[11•2000]

Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

19) Die Kunst jenseits der Künste

Die Ängste vieler Künstler, der Staat würde, wenn er aufhört, ein Sozialstaat zu sein, auch aufhören, ein Kulturstaat sein zu wollen, sind weniger von der Sorge der Künstler um die Existenz des Kulturstaates getragen als von der Sorge um die Gefährdung ihrer Existenz. Sie machen sich Sorgen, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können, und viele von ihnen leben in bestehender oder drohender Not. Darüber nachzudenken, welche sozialen Netze eine Gesellschaft für ihr sogenanntes Humankapital bereithält, ist eine vordringliche Aufgabe, und im übrigen nicht nur aus moralischen, sondern auch aus Gründen distributiver Vernunft. Die Felder der Wissenschaft und der Kunst überlappen sich längst; der soziale Standard, den Wissenschafter genießen, steht Künstlern ebenso zu.
Soziale Sicherheit für Künstler kann indes nur sinnvoll bedacht werden, wenn die Künstlergemeinschaft dazu bereit ist, eine Debatte über die Zeitgemäßheit ihres Berufsbildes zu führen. Die Frage, was ein Künstler im Jahr 2010 sein wird, welche Zukunft also heute junge Künstler haben, wird immer noch reflexhaft abgewehrt. Die wachsenden Ängste führen zu einem Rückschritt des Bewußtseins über das Künstlertum, und insofern sie ein Nachdenken über das Berufsbild Künstler in einer nachindustriellen Gesellschaft eher behindern als fördern, verhindern sie nicht, wovor sich Künstler heute fürchten, nämlich von einer verwissenschaftlichten Welt wegrationalisiert zu werden.
Das verbreitetste Selbstbild beziehen Künstler immer noch aus einer vorromantischen Wirklichkeit, jener einer vorindustriellen Gesellschaft. Damit verbunden ist eine bestimmte Versorgungsmentalität und Unselbständigkeit, damit wiederum verbunden ein Ablehnen einer Festschreibung ihres Berufsbildes. Vorstellungen von geschützten Arealen, in denen Künstler im Auftrag von Gönnern ihren Begabungen nachgehen, und das damit verbundene Modell des geborenen Genies, das sein Leben lang der Welt Kunst schenkt, nicht arbeitet und im übrigen von allem Weltlichen ferngehalten werden muß, spiegeln sich in der gesellschaftlichen Isoliertheit des Kunstbetriebes und nicht zuletzt im Modell der Meisterklassen im Bereich der Künstlerausbildung wider. Fragen der beruflichen Mobilität und der Berufsfelderweiterung werden gern als solche, die die Kunst entweihen, empfunden. Paradoxerweise hinken heute Künstler in ihrem Selbstbild sehr oft den Entwicklungen der Kunst hinterher. Die Kunst nämlich trägt in ihren neuesten Prägungen längst die Zeichen der technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen.
Die Kunst eilt also den Künstlern voraus, denn sie ist an ihr eigenes Ende gekommen; an ihr Ende gekommen, heißt nicht, daß nicht weiter produziert, und auch nicht, daß dies nicht erfolgreich getan werden würde. Und an ihr Ende gekommen bedeutet auch nicht, daß nicht etwas Anderes, etwas jenseits dessen, was Kunst war, existieren wird. Hingegen bedeutet die Kunst ist an ihr Ende gekommen, daß sich für viele zeitgemäße künstlerische Arbeiten solche Kriterien wie Genialität, Einzigartigkeit, Originalität oder Authentizismus überlebt haben und es produktiver geworden ist, darüber nachzudenken, welches Kalkül, welches Organisationstalent, welche Fähigkeit zu strukturellem Denken man als Kompetenzen hinter diesem Werk ausfindig machen kann.
Erweiterter Kunstbegriff nannte Joseph Beuys sein Konzept einer Kunst als sozialer Plastik, bei der jeder Mensch ein Künstler ist, insofern er teilhat am gesellschaftlichen Ganzen. Spätestens damit war Erneuerung nicht mehr als Überbietungsformel zu denken und hat das Publikum eine neue Autorität als Instanz für Kunst gewonnen.
Rainer Metzger schloß an den Begriff des erweiterten Kunstbegriffs an und ersann für die neunziger Jahre den der Kunst jenseits der Künste, also jenseits der Einzelkünste, jenseits der Gattungen, die als Kriterium unwichtig geworden sind. Für Metzger sind künstlerische Akte heute voraussetzungslose Statements und haben einen paradoxen Status als zum einen Präzedenzfälle, zum anderen, nach dem Tod des Autors, als Dienstleistungen. Wenn die Gattungen keinen Rahmen liefern, treten andere, heiklere Beglaubigungen an ihre Stelle. Als zwei besonders wichtige nennt Metzger die Bereiche Philosophie-Theorie-Wissenschaft und all die Phänomene, in denen sich Trends zeigen: Werbung, Mode, Pop-Arten, der Mainstream im allgemeinen.
Nun scheint es sinnvoll, von einem möglichen zeitgemäßen und zukünftigen Künstler als einem Cultural Worker zu sprechen. Er wäre in der Lage, so zu denken und zu handeln, daß er immer weiß, in welchem Zusammenhang er sich entfaltet. Notwendigerweise ist er als ein Generalist vorzustellen. Seine künstlerische Arbeit wäre, so Metzger, keine Eingeweideschau und kein Psychotrip. Der Cultural Worker wüßte um konkrete Aufgaben oder, wo sie fehlen, um ein konkretes Bezugsfeld innerhalb jener Ökonomie der Aufmerksamkeit, die seinen Status bestimmt. Aufmerksamkeit zu erringen, ohne einerseits der reinen Spektakelkunst zu verfallen und sich andererseits in Vorstellungen von Verkanntheit und von Provokation zu verlieren, wäre seine zentrale Fähigkeit innerhalb der Mechanismen von Kultur- und Bewußtseinsindustrie.
Was nun ließe sich über die Berufsfelder eines "Cultural Workers" sagen? In Bezugnahme auf die Rolle der Cultural Studies müßten sich emanzipatorisch gedachte künstlerische Berufsfelder gegen eine Vertreibung von Theorie und Forschung aus dem Kunst-Zusammenhang entwerfen.

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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