[9•2000]

Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

18) Dzevad Karahasan: Wer erzählt den Islam?

Dzevad Karahasan ist ein gläubiger Moslem, der von der Vielfältigkeit des Islam und seiner Verbindungen zum Abendland erzählt. Sein Roman Schahrijars Ring setzt Geschichten oder vielmehr Texte, die eine Vielzahl von Geschichten offenbaren, zueinander in Beziehung, und das auf drei Schauplätzen in drei Zeitebenen. Der äußere Text handelt in Sarajewo um 1992, der darunterliegende im Istanbul des sechzehnten Jahrhunderts und schließlich der innere Teil im mesopotamischen Uruk um, wie ich vermute, zweitausendsechshundert vor unserer Zeitrechnung. Zum sumerischen Text fehlen die zeitlichen Angaben, was die Vermutung nahelegt, die älteste Schicht der Erzählungen entspringt einer Erfindung des Autors, während sich die anderen der Quellen von Archiven bedienen. Karahasan nennt die Geschichten Hinterlassenschaften. Zum sumerischen Märchen vermerkt Emina Minka Memija, offenbar eine Koautorin, in der Erklärung weniger bekannter Namen und Begriffe eine Reihe von wissenschaftlichen Kommentaren. Vermuten läßt sich also, der Autor Karahasan habe sich dazu gezwungen gesehen, die unterste Schicht, also den Anlaß seines Romans, selbst zu erfinden. Daraufhin nennt er auf den verschiedensten Ebenen des Romans Koautoren als die eigentlichen Autoren, um sich rasch wieder zum Verschwinden zu bringen.

Schreiben wird bei Karahasan zur Rekonstruktion, mehrmals nennt er Lesen = Abschreiben = Bauen als Wesen dieses Tuns. Da es sich bei Schahrijars Ring um ein Objekt verschiedenster Textsorten handelt, ist wohl auch der Verlagstext Teil eines Verfahrens, das sich gegen kulturellen Essentialismus wendet. Die Unentschlossenheit scheint Karahasans Denk-, Schreib- und Lebensprinzip zu sein.

(In Sarajewo steht ein Mann am Fenster und heult den Mond an. Eine junge Frau, die gerade beschlossen hat, die Stadt zu verlassen, und nach Venedig zu gehen, bleibt stehen und stimmt ein. So bizarr und nicht ganz von dieser Welt beginnt wenige Jahre vor Ausbruch des Krieges die Liebe zwischen Faruk und Azra. Er ist ein schwärmerischer Phantast, sie eine nüchterne, unabhängige Frau, die ihn trotz heftiger Liebe nur schwer erträgt. Von seiner Erotik geht etwas zutiefst Irritierendes aus – als wäre er kein richtiger Mensch. Zwischen ihm und der Realität stehen seine Geschichten, in denen sich die Identität von Ereignissen und Personen dauernd ändert. Azra trennt sich von Faruk.)

Die Liebe zwischen Azra und Faruk, von der Scharijahrs Ring erzählt, könnte erfüllter nicht sein, und ihrer Ekstase folgt etwas, was man weniger als Trennung denn als einen körperlichen Entzug liest. Dieser Entzug scheint Teil des Vertrages zu sein, der die Ekstase ermöglicht. Erst die eremitenhafte Anstrengung des Lesens und Abschreibens der Hinterlassenschaft Faruks (einer Geschichte des osmanischen Sufi-Dichters Figani, der wiederum ein sumerisches Märchen abgeschrieben habe und dafür hingerichtet worden sei) hat rückwirkend ermöglicht, was Azra am Ende sich selbst als eine Glückliche bezeichnen läßt. Mit Ich, Azra, die Glückliche endet der Roman, denn Azra ist diejenige, die alles aufgeschrieben hat. Dasselbe Prinzip war der ekstatischen Sexualität mit Faruk eingeschrieben gewesen. Die Trennung wird Azra und Faruk als Dienst an der Erfüllung abverlangt, die das Liebesritual als Erkenntnisprogramm ermöglicht. Kraft solcher Anstrengungen der Liebenden, die wie Erzählende und wie Lesende sind, breitet sich in Scharijahrs Ring ein Epos des Prinzips der Wiederholung aus, das als das Prinzip der Liebe dargestellt nie in Geschichtsfatalismus umschlägt, weil alles Echte sofort gestört, mit Unreinem untermischt wird. So wie die Liebe zwischen Azra und Faruk häretische Züge trägt, überschreitet auch der Text die Ökonomie einfacher Sinnstiftung. Draußen tobt der Krieg, über alle Zeiten, in Sarajewo, in Istanbul, in Uruk. Was die Liebenden, die ausdrücklich die Zeugung von Nachkommenschaft verweigern, tun, ist dem Reich des Verbotenen zuzuschreiben. Sie zeichnen Fluchtlinien, betreiben Selbsterkenntnis, die sich der Logik der Kriegsmaschinerie verweigert, diese bezeugt, aber auf Distanz weist, sozusagen nicht füttert.

Karl-Markus Gauß hat auf Karahasans verwegenen Versuch hingewiesen, orientalische Traditionen mit europäischem Kritizismus zu verbinden, so als hätte sich Robert Musil darangemacht, uns mit hellwachem Verstand von Tausendundeiner Nacht zu erzählen. Tatsächlich fordert Scharijahrs Ring zum Vergleich mit dem Mann ohne Eigenschaften heraus, weil er wie Musils Fragment einen Parallelmythos entwirft und nicht zuletzt, weil er ein essayistischer Roman ist. Darstellung und Reflexion werden in Schwebe gehalten, und Karahasan bedient sich dafür aller erdenklichen Textsorten, stellt sie nebeneinander, verschränkt sie, weist jedoch allem stets einen im Roman auffindbaren Erzähler zu, schwingt sich also nie über die Helden seiner Erzählung hinaus.

So scheint mir Gauß’ Urteil Karahasan gerecht und im selben Augenblick nicht gerecht zu werden, weil diesem Urteil die Unentschlossenheit fehlt, mit der Karahasan ans Erzählen und Weltentwerfen geht. Vielleicht läßt sich Scharijahrs Ring ein Echo auf das Modell der Scheherezade nennen, und doch bleibt ein Rest über, ein neueres (oder gar noch älteres) Echo eines auktorialen Erzählers. Der wähnt sich jedoch nicht göttlich, sondern zwinkert ironisch dem Leser zu, ein Meister der Arabeske, der sich Platons Höhlengleichnis zu Herzen genommen und daraus ein Handwerk gezimmert hat, das orientalische Schattentheater, das den Zuseher ins Zentrum des Spieles rückt und zwingt, die an ihm vorbeiziehenden Gestalten und Formen zu entziffern.

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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