[7•2000]

Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

17) Johannes Mario Simmel: Die Verspätetheit der hohen Literatur!

Wollte man vor zwanzig Jahren im Umkreis des Forum Stadtpark ein wirklicher Dichter werden, las man Johannes Mario Simmel aus Gründen des Gebotes einer gewissen Geisteshygiene nicht. Um ein Avantgardeautor, also ein wirklicher Dichter zu werden, mußte man Peter Handke lesen. In Graz trugen die Jungdichter ein Handkebuch in der Sakkotasche, und falls jemand Simmel las, gab er das nicht öffentlich zu.
Weil also Simmel ein Autor ist, der während meiner Literaturlehre mit einem Leseverbot besetzt war, möchte ich meinen Versuch über Simmel mit einigen Bemerkungen über die Frage der Repräsentation beginnen. Ich möchte fragen, wer spricht in wessen Interesse, wenn von Kunstvorstellungen die Rede ist? Während meiner Literaturlehre war Simmel ein schlicht kunstunwürdiger Autor, zum einen, weil er wegen seines ökonomischen Erfolgs als Verräter am Literaturbetrieb, und zum anderen, weil er – wie daraus gefolgert wurde – als der Trivialautor schlechthin galt.
Eine solche Literaturvorstellung würde heute das Auftauchen Simmels in einer ernsthaften Literaturdebatte als den Beweis für die neoliberale Apokalypse geltend machen wollen. Demnach verschwinde gegenwärtig das Bewußtsein über Ästhetik im monologischen Interesse des Marktes an der Verkaufbarkeit von Gütern. Eine solche Kritik würde sich als radikal kapitalismuskritisch verstehen und bewegte sich im Bann eines zentralen Blickwinkels, der Repräsentation als Voraussetzung von Befreiung oder im künstlerischen Fall als Beweis von ästhetischer Würde meint.
Simmels Hinaufheben in den Literaturolymp brächte den gewichtigsten Mythos ins Wanken, den der Literaturbetrieb produziert, nämlich daß die Kunst der Menschheit im Schillerschen Impetus nicht nur die Würde erhält, sondern auch die in der Medienwelt verschwindende Qualität der Vielschichtigkeit. Komplexität war, wie Nobert Bolz feststellt, indes nie Sache der Kunst. Ins Theater ging das Publikum immer nur, weil es Komplexitätsreduktion leistet, ja das Leben so vereinfacht darstellt, wie es im Alltag niemals ist.
Das nun wirklich Interessante, der Umstand, warum Johannes Mario Simmel heute im Kontext eines Kulturkanons befragenswert wird, ist die Tatsache, daß die Informationskultur dem Autor die Maske des Schamanen vom Gesicht zieht und wieder, wie Dzevad Karahasan meint, zum Handwerker macht. Der Autor als Handwerker spricht nicht für ein Verschwinden der ästhetischen Debatte, sondern gestaltet sich in Folge der Verwissenschaftlichung, die mit der Digitalisierung von Information gerade alle Lebensbereiche, und eben auch die Wertordnung der Ästhetik erfaßt. Verwissenschaftlichung – ob in der Ökonomie, der Politik, der Alltagskultur, den Medien und eben auch in der Literatur und Kunst – bedeutet tendenzielle Auflösung der zentralen Perspektive, bedeutet Fragmentierung von Wahrheit und Geschmack.
Nun habe ich inzwischen Simmels Roman Es muß nicht immer Kaviar sein gelesen, nicht anders, wie ich zum Beispiel Robert Musil zu lesen gewohnt bin. Kann es nicht sein, frage ich mich, daß Simmel vor dreißig Jahren etwas vorgeführt hat, was seit den späten achtziger Jahren – nicht zufällig zuerst im angloamerikanischen Raum – zum Standard der Cyberkultur geworden ist? Ist womöglich Simmel ein Urvater von Trashliteratur wie von Hypertexten? Einer Literatur, die sich aller komplexen Darstellungsformen bedient, um sie als ein kalkuliertes Melodram zu unterlaufen, eben weil nicht mehr das Mißtrauen des Autors gegenüber seiner eigenen Lebenswelt den Text regiert, sondern das Spiel mit verschiedenen Aggregatzuständen, die er zu entwerfen in der Lage ist?
Simmels Ich-Erzähler spielt mit eben den Fragen nach der Repräsentation. Ich, Simmel, erzähle diese Geschichte, behauptet er. Ich, Simmel beantwortet die Frage so überdeutlich, daß der Leser sie für einen Fake halten muß und am Ende die Vermutung auftaucht, Simmel bediene sich gar einer multiplen Künstlerpersönlichkeit, die vielleicht von einer Agentur kreiert worden ist – einer Factory, in der man Literaturproduktion leistet.

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Das vollständige Kapitel
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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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