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Walter
Grond Der Erzähler und der Cyberspace
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13) Hypertext, Sprachspiel, Mögliche Literatur
Im Cyberspace erfährt das Sprachspiel der Moderne seine Fortsetzung wie seine Auflösung: die Sprache in Aktion, wie Heiko Idensen den elektronischen Hypertext nennt. Derridas Verteidigung der Schrift aus dem Jahr 1966 war in den achtziger Jahren die meistzitierte Denkfigur der postmodernen Sprachphilosophie. Zur selben Zeit ermöglichte die Bereitstellung benutzerfreundlicher Software eine neue Literaturform im Computernetz, den Hypertext, eine Form, die ursprünglich die Journalpraxis von Naturwissenschaftern bezeichnet hatte. Hypertexte sind ein assoziatives Verknüpfen von Sprachpartikeln, ein Sichtbarmachen von Ideenfragmenten, ein Bild-Schirm-Denken, Verzetteln und Über-den-Rand-Schreiben. Ein Hypertext entsteht durch ein ständiges Verflechten; für Roland Barthes verliert sich in diesem Gewebe der Autor wie eine Spinne, die in die konstruktiven Absonderungen ihres Netzes aufgeht. Wörter sind Absprungstellen sie saugen im Hypertext den Leser nicht mehr in den Text hinein, sondern schleudern ihn hinaus in das weite Feld digitaler Kommunikationsstrukturen. Leser und Schreiber sind mit denselben Maschinen verknüpft, schreiben und lesen gleichzeitig an einer über die ganze Welt verteilten und zerstückelten Textur. Wie nun hängen Derrridas Verteidigung der Schrift und die Erfindung des Hypertextes zusammen? In der Romantik hatte die Dichtung ihren Selbstzweck entdeckt. Seit Hegel von den Philosophen aus dem Dienst der Metaphysik entlassen, war sie frei geworden und blieb seitdem nur mehr an eine einzige Bedingung gebunden, nämlich an ihre Schriftlichkeit: Literatur ist in der Moderne das, was geschrieben steht. Schon Novalis bemühte die Metapher von der Welt als Buch, in dem wir blättern. Sobald zuerst das Wort war und die Welt aus Schrift und Buchstaben bestand, wurde das Verstehen der Welt zum Lösen eines Kreuzworträtsels, stieg das Wortspiel zur Instanz auf, die wie der Zufall das Schicksal ablöste, und die Spielregel zur Kraft, die von nun an alles zusammenhielt. Derrida nun bestärkte die Metapher von der Welt als Schrift, stellte aber fest, daß nicht nur keine Hoffnung auf einen ersten Schöpfer, sondern auch keine auf einen Urtext bestehe. Einen ersten Text, der die Welt begründet hätte, gibt es nicht; der Ursprung ist leer. Das Buch und mit ihm die Welt, die alle anderen Bücher und Welten enthält und zugleich Offenbarung ist, bleibt ein Gerücht. Es gibt also keinen Ausweg aus den Texten. Sie sind bodenlos und doch notwendig, will man nicht dem Schweigen des Anfangs anheimfallen. Das Buch, in dem man blättert, in Texten, die bodenlos und doch notwendig sind, entspricht als Rahmen durchaus dem Hypertext; das elektronische Buch ist aber nicht nur von endloser Länge, sondern hat auch Seiten, die endlos ineinander verschachtelt sind. Die Manuskripte von Proust oder Joyce mit ihren unzähligen handschriftlichen Einschüben, Fußnoten und Ergänzungen vermitteln bereits eine Ahnung davon, zu welch raumgreifenden Ausschweifungen vieldimensionale Schreibbewegungen führen. Prousts Gedächtnisarbeit war von außen nach innen vorgedrungen und hatte zu unendlichen Verschachtelungen von Episoden geführt, die immer weitere Erinnerungsprozesse freisetzten. Um solche Schreibverfahren bewältigen zu können, nähte Prousts Haushälterin meterlange ausfaltbare Papierstreifen leporelloartig an den Rand der Seiten. Zugleich war von Proust ein Leser gefordert, der einen Roman wie ein technisches Vehikel gebrauchen und als Benutzer der literarischen Maschine in die Verständigung mit einbezogen würde. Der Leser sollte den Text als eine Brille verwenden, um Anschlüsse und Verbindungen zu eigenen Erinnerungen und Wahrnehmungen herzustellen. Das Sprachspiel ist das Kennzeichen der Moderne. Es meint Jürgen Ritte zufolge über den Begriff des Spiels hinaus Regelhaftigkeit und spricht daher von der Konstruiertheit der Werke, vom gleichsam mathematischen Kalkül aus Sprache und Schrift, somit von Regeln, die die Produktion des Werkes bestimmen, und bringt folglich die Instanz der Autorenschaft ins Wanken. Indem es Spiel ist, behauptet es die Autonomie seiner Werke, die nichts abbilden als ihre eigene Regelhaftigkeit. Und es erscheint immer als Abweichung und Variation eines anderen, eigentlichen Textes und bewirkt so die Feststellung, daß Literatur zuletzt immer aus Literatur gemacht ist. Das Spiel des Entschlüsselns und Verschlüsselns prägte nicht nur die literarische Moderne, sondern unterlag letztlich der Wissenschaftsauffassung des 19. Jahrhunderts und eben jene führte zu den großen technischen Erfindungen. So erscheint es als kein geisteswissenschaftlicher Zufall, daß sich im Umkreis Mallarmés und Roussels Literatur und Sprachwissenschaft als Kinder der Romantik wieder begegneten, daß zudem Wissenschaften wie die Psychonanalyse oder die Genetik ihre Erkenntnisprozesse in Metaphern von Text und Verschlüsselung, Lektüre und Entschlüsselung faßten daß sie also ihre Sprache aus den Arsenalen des Sprachspiels schöpften und sich der Diskurs der Wissenschaft nur als Spiel und Regel begreifen läßt. Darin liegt auch die Gemeinsamkeit mit Prousts Gedächtnis: Nie hat man die Wahrheit oder Wirklichkeit des Tatbestandes vor Augen; es liegen immer nur Fragmente vor, durch die das Ganze zwielichtig durchschimmert. Das Fragment kann nicht lügen. Auch im elektronischen Hypertext erscheint die Welt als ein Puzzle, ein Geflecht aus Texten, die sich wechselseitig infizieren. Hypertexte verändern jedoch das Schreib- und Leseverhalten. Sie sind zwar Sprachspiele schlechthin, aber ohne die Zentralgewalt eines Autors, und führen als Multimediaprogramme zudem die Schrift zurück in das gesprochene Wort. Durch das schnelle Hin- und Herschalten zwischen verschiedenen Ebenen, das Schaffen von Querverbindungen und die Schnelligkeit des Austausches machen Hypertexte den Raum zwischen verschiedenen Text-Fragmenten zum Gegenstand; sie inszenieren und bearbeiten Intertextualität. ... Dies ist ein Textauszug! Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages |
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