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Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

10) Totalereignisse

Vollendungen geschehen periodisch. Nicht nur sind Finnegans Wake von James Joyce und Salve Res Publica Poetica von Paul Wühr dichterische Totalereignisse, sie sind als solche auch Sackgassen: Entwürfe, die sich nicht weiterschreiben lassen. Sie gleichen dem Gedächtnis selbst, und es ist nicht sicher, ob ihre Adressaten noch Menschen sind. Sie vollenden eine Tradition und wollen nicht traditionsstiftend sein. In ihnen ballt sich eine Epoche zusammen, sodaß sie für die Nachfolgenden alles verändern und zugleich erleichtern, weil sie ein aufgebrauchtes kulturelles Feld als ein wieder auffüllbares hinterlassen. Literarische Totalereignisse sind nicht eigentlich, was man Meisterwerke nennt. Sie ziehen eine Interpretationsmaschine nach sich, weil sie die Grenze künstlerischer Möglichkeiten abstecken. Als in Schrift gefaßte Gesamtkunstwerke haben sie ihren Schöpfer verschlungen.

Die Protagonisten des Hypertextes, der besonderen Literatur des Cyberspace, beziehen sich gern auf literarische Totalereignisse wie Finnegans Wake. Die strapaziösesten Romane, etwa Pynchons Gravities Rainbow, erscheinen als fortgeschrittenste Leistungen der analogen Kultur und daher dem Cyberspace wesensverwandt. So werden in der Netzwerkdebatte die total ausgeschöpften Möglichkeiten von Literatur bereits als Überwindung der Literatur gedeutet, die dann im Cyberspace ihre Fortsetzung findet.

Als die Totalmobilisierung der Sinne stellt der Rave die soziale Skulptur des Cyberspace dar. Er steht im Gegensatz zu den literarischen Totalereignissen nicht am Ende, sondern am Beginn einer Entwicklung, der Technokultur. Dabei vollendet er als ein Gesamtkunstwerk einen Teil der technoiden Moderne, ebenso wie Finnegans Wake einen Teil der literarischen Moderne vollendet hatte. Die Überfülle im literarischen Totalereignis deckt sich mit der Überleere der Technoekstase, die eine Totaleinforderung von Glücksgefühlen darstellt. Beide sind terroristische Akte. In der Technoekstase erfährt der Autor seinen Tod und wird als DJ zum Dienstleister der Raver. Die Ekstase erfordert alle Kräfte, die Designerdroge verdreht die Wörter im Mund, und das Hämmern der Bässe im Dancefloor zertrümmert den Satzbau. In der Ekstase geht jeder Sinn im Rausch auf; der Rave bezeichnet die Überschreitung des Konsums, in ihm konsumieren sich die Konsumenten selbst.

Finnegans Wake läßt ahnen, was Überfülle eines Sprachkunstwerkes bedeutet; der Hypertext, was Zerstückelung in einer technischen Poetik des Transports sein kann; und der Rave, was Überleere in einer chemisch technischen Körperlichkeit vermag. Ab einer gewissen Fortgeschrittenheit eines Feldes – der Literatur genauso wie der technoiden Kultur – werden die einzelnen Totalereignisse zur Metapher für das Bewußtsein aller Teilnehmer und Teilhaber an diesem Feld. Je fortgeschrittener ein System wirkt, desto mehr reduziert es sich auf die einzige Frage, ob man dazugehört oder nicht.

Ein umfassender Gebrauch von Erzählen schließt an die Überzeugung an, das Gehirn bringe die Wirklichkeit erst hervor, indem es diese erzählt; unsere bewußtseinsabhängige Welt werde also erst durch einen Erzählvorgang erzeugt. Im Blickwinkel eines solchen radikalkonstruktivistischen Musters muß sich ein umfassendes Erzählen um außerliterarische Wirkung nicht kümmern, weil bereits die Strukturen davon erzählen, daß Wirklichkeit und Literatur auf dieselbe Weise, am selben Ort erzeugt werden. Oder, läßt sich folgern, Wirklichkeit und Techno oder jedes andere kulturelle Feld.

Umfassende Ereignisse bzw. umfassende Erzählungen lassen jedoch den Menschen so sehr außen vor, daß in ihnen die Frage, wie der einzelne Benutzer mit einer Situation bzw. einem Medium umgeht, nicht mehr vorkommt. Totalität und Anspruch auf Totalität führen zur Erschöpfung, und so folgt auf jedes Totalereignis – ob der Fülle oder der Leere – stets eine Selbstermächtigung, die erneute Geburt des Autors. Die Erschöpfung betrifft sowohl den Rahmen des Werkes oder des Ereignisses als auch die sozialen Bedingungen, unter denen Werk oder Ereignis geschaffen wurden. Als das Ende einer Geschichte des Ringens um die totale Form treten künstlerische und kulturelle Totalereignisse parallel zu totalitären Entwicklungen in der Gesellschaft auf. Auch wenn sie gegen den politischen Totalitarismus oder wie im Fall des Rave gegen den Totalitarismus des Kapitals entworfen sind, tragen sie doch dessen Spuren. Totalereignisse bewirken, daß am Ende jemand aus ihnen heraustritt und erzählt, was er darin erfahren hat und was andere darüber berichten.

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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