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9) Literatur als
Grundlagenforschung
Vom Einbruch der avantgardistischen Problematik zwar nicht
unbeeindruckt, aber weiterhin auf die Autonomie des literarischen Feldes bestehend,
versucht eine nachexperimentelle Literatur ein zeitgemäßes Schreiben aus der
Weiterentwicklung bzw. der teilweisen Verwerfung der modernistischen Ästhetik zu
begründen. Die Parallelen zu den Strategien, die Hartmann in bezug auf eine notwendige
Datenkritik des Cyberspace fordert, sind augenfällig: Nachexperimentelle Dichtung nährt
sich aus einem sprachkritischen Impetus.
Der Kolonisierung des Körpers durch Technik entspricht die Kolonisierung des Geistes
durch Sprache. Wie Sprache den Sprechenden kolonisiert, versucht eine Literatur
offenzulegen, die ihre Triebkraft aus dem Zweifel gegenüber dem Medium, in dem sie sich
bewegt, bezieht und daher als das wichtigste Kriterium für das Schreiben die Genauigkeit
nennt. Sprachkritik entwirft also einen Kunstbegriff, der Wissenschaftlichkeit in das
dichterische Verfahren mit einbezieht. Literatur versteht sich folglich als
Grundlagenforschung.
So führt etwa Ferdinand Schmatz in seiner Poesie Literatur, Kunst und Philosophie als
endlose Verknüpfung vor. Er stellt eine Distanz zur Selbstbezüglichkeit der Dichtung
her, indem er die Welt-Bibliothek, die ständig Interpretationen und damit Kopien erzeugt,
daraufhin befragt, ob sie Sinnauslöschung oder Sinnentdeckung leistet. Er hebt die
Grenzen zwischen Kunst und Reflexion im poetischen Text selbst auf, nimmt also das
wissenschaftliche Urteil mit hinein in das Gedicht. Das Neue an der neuen Lyrik ist nicht
nur das Hin und Her zwischen Wahrnehmung, Empfindung, Bild und Wort, sondern auch das
Begehren nach Verstehen. Neue Dichtung widersetzt sich wohl dem Verdunkeln und
Sinnzerstören, der Irritation und der Verhinderung von üblichem Verstehen, wie es die
moderne Lyrik in der Tradition Baudelaires und Mallarmés tat. Als Dichtung bleibt sie
aber dennoch einem dunklen Schreibakt verpflichtet, der stets nur die eine Hälfte des
zerbrochenen Ganzen sichtbar macht, eines utopischen Ganzen, in dem Bild und Abbild
zusammenfallen. In der Vollständigkeit, legen Schmatz Gedichte nahe, wäre die
Idylle erreicht, die das Denken dem Dichter verbietet.
Lieber Herr Fuchs, lieber Herr Schmatz, eine Korrespondenz zwischen Dichtung und
Systemtheorie, stellt den fortgeschrittensten Versuch dar, Irritationen zwischen Poesie
und Wissenschaft festzumachen. Dabei wird klar, wie kulturelle Verschiebungen nicht nur
auf das Urteil über Literatur, sondern auch auf die Literatur selbst wirken. Daß auf die
Frage nach dem Wesen von Dichtung in einer computergestützten Kultur keine totale Antwort
gefunden werden kann, bedeutet einen hohen Grad von erreichter Freiheit. Die Korrespondenz
Schmatz mit dem Soziologen Peter Fuchs befragt daher nicht nur das Verhältnis von
Wissenschaft und Dichtung, sondern stellt als Funktion der neuen Dichtung sie selbst als
ein systemtheoretisches Verfahren in Aussicht. So wie die Romantik die Schriftlichkeit
entdeckt hatte, entdecke, so Fuchs, die neue Dichtung die Kommunikation, und wolle, meint
Schmatz, trotz aller Anstrengungen für den Leser genußvoll bleiben. Nicht nur erklärt
die Systemtheorie, daß alle Systeme selbstbezogen funktionieren. Sie erklärt auch, daß
Kommunikation nicht wahrnehmen kann: Gedankenmachen und Kommunizieren bedingen einander,
weil zwischen ihnen ein unaufhebbarer Unterschied besteht. Dichtung will nun als Krönung
der Literatur eine Sprache erzeugen, die Kommunikation und Bewußtsein reizen kann. Indem
sie Grundlagenforschung und Unterhaltung versöhnen will, kreist die neue Dichtung um ihre
eigenen Grenzen.
Hubert Winkels hatte seine Autorenportraits zur Literatur der achtziger Jahre an Werken
festgemacht, die wie im Fall Anne Dudens oder Thomas Hettches der zeitgenössischen
Überproduktion von Zeichen und Bildern, diversen Weltentwürfen und Daseinsdeutungen
eingedenk sind. Solche Literatur wisse sich der Vervielfältigung von Sinn, dem
Zusammenfall von Politischem und Ästhetischem, von Macht und Moral, von Medieneffekten
und Erfahrung unterworfen. Sie wolle daher ihre Kraft nicht länger aus dem eigenen
Verschwinden ziehen, nicht länger dem Kult des Eingeweihtseins, dem Pathos der letzten
Leser und dem Bergungsunternehmen Tradition verbunden sein.
Die Poetik der Postmoderne verspricht, die Literatur sei ins Freie getreten. Zehn Jahre
nach dieser Mutmaßung Ulrich Janetzkis bezieht heute ein Autor wie Thomas Meinecke seine
ästhetischen Kriterien aus einer Durchmischung dichterischer, theoretischer und
populärer Formen; sein Roman Tomboy durchwebt eine Selbsterfahrungsschrift mit
Gendertexten von Judith Butler.
Die Theoriefeindlichkeit, läßt sich zusammenfassen, ist einer grundsätzlichen
Aufgeschlossenheit gewichen. Autorenpoetiken besetzen in ihrem Selbstverständnis die
Leere, die ein immer schmäler werdendes Feuilletion hinterließ, sind also Versuche, den
verschwindenden Dialog um die Literatur wiederzubeleben. Mit ihnen ist ein Verhältnis von
Theorie und Praxis angesprochen, das nicht mehr hierarchisch eine Praxis als die
Verwirklichung von Theorie vorstellt, sondern beide in einem gleichzeitigen Arbeitsfeld
und in gegenseitiger Befruchtung denkt.
Ähnliches ließe sich auch schon über die literarischen Verfahren von Paul Wühr und
Durs Grünbein sagen. Neuerdings bewegen sich jedoch junge Autoren wie Meinecke mit einer
Verteilungs-Vernunft zwischen dem literarischen Milieu und den Pop- und
Technozusammenhängen hin und her. Hybridität will inzwischen als Erweiterung der
künstlerischen Möglichkeiten verstanden werden und ist darüber hinaus dem Pragmatismus
verpflichtet, mit der sich auch der Medienbenützer zwischen den Fernsehkanälen treiben
läßt.
Autorenpoetiken treten nicht zuletzt zur Rettung eines Literaturbegriffes an, als dessen
Krönung die Dichtung gilt. Was aber könne Dichtung in technischer Zeit noch sein, fragt
Friedrich Kittler. Ursprünglich war sie ja eine Erinnerungstechnik gewesen mit dem
Hexameter hatten die Griechen die Wörter dem Vergehen entreißen wollen; das rhythmische
Tiktak, wie Nietzsche es nannte, hatte bestimmte Reden für Menschenohren unüberhörbar
werden und über alle Entfernung hinweg für Götterohren verstärken sollen. So war der
griechische Rhythmus nach akustischer Länge oder Kürze und nicht nach der Bedeutung im
Wort bestimmt: Antike Lyrik war an einen Fuß, der sie tanzte, gebunden.
Weil aber in den modernen europäischen Sprachen die Wortbedeutung über Betonung und
Versrhythmus entschied, schwand mit dem Körpergedächtnis auch die Musik aus der Lyrik.
Die klassisch-romantische Dichtung löste sich vom Tanz und wurde mit der Psychologie
ihres Autors gekoppelt. Seit der Klassik, so Kittler, hätten wahngebildete Stimmen
zwischen den Zeilen geflüstert, für Leser die der Mutter und für Leserinnen die des
Autors, und daher sei Dichtung im verliebten Gedächtnis haftengeblieben. Erst unter
hochkapitalistischen Bedingungen, als Konsumenten solche Psychologie langweilig zu finden
anfingen, habe die Dichtung ihre Erinnerungstechnik auf das kalte Medium der Schrift
umgestellt.
...
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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)
Respektieren Sie bitte die Rechte des Autors und des Verlages. Diese
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