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Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

8) Datenkritik und Avantgarde nach der bürgerlichen Öffentlichkeit

Avantgarde löst heute hauptsächlich Langeweile aus – sofern sie überhaupt noch Öffentlichkeit stiftet, nimmt diese am Wandel zur Informationsgesellschaft kaum teil. Spätestens seit den neunziger Jahren entwickelt die junge Generation immer weniger Ehrgeiz, sich im literarischen Milieu zu bewähren. Allerdings ist inzwischen auch die Euphorie um die Netzwerkprojekte als Alternative zur Autorenkunst verklungen; am Horizont taucht längst ein Hypermedium aus Massenmedien, Computer und Telekommunikation auf, das den Alltag in der Industriegesellschaft durch und durch steuern und kontrollieren wird.

In diesem Rahmen bildet, wie Frank Hartmann bemerkt, die elektronische Verfügbarkeit von Texten eine neue, hybride Medienform. Nicht die Informationsexplosion, sondern eine der Medienwirklichkeit unangemessene kulturtechnische Praxis ist dabei das Problem. Nach der philosophischen Vernunfts- und der anschließenden Sprachkritik fordert Hartmann für das Zeitalter des Cyberspace eine Datenkritik, die die Möglichkeitsbedingungen der Informationsgesellschaft untersucht; also untersucht, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit unter den neuen Kommunikationsverhältnissen aussieht.

Zu untersuchen, auf welche Traditionen die Generation X zurückgreift, kann für eine solche Beschreibung sehr hilfreich sein. Zu wissen, worauf sich avancierte Jugendkultur heute bezieht, ist auch zur Beantwortung der Frage interessant, ob man im Umfeld der neuen Kulturtechniken überhaupt noch von Avantgarde sprechen kann. Wenn Avantgarde längst eine selbstbezügliche Beliebigkeit darstellt, muß ihre Ablöse durch Pop- und Technozusammenhänge einer wesentlichen Kritik standhalten: der Frage, ob die neuen Zusammenhänge nicht bloß die eine Beliebigkeit durch eine andere ersetzen.

Der Horizont einer nachbürgerlichen Öffentlichkeit blitzt bereits seit Jahrzehnten im Lebensentwurf von Peter Weibel auf: Er trat nicht nur als Dichter, Aktionist, Bildender Künstler und Medienkünstler auf, sondern erfand auch als Theoretiker die Begriffe Wiener Aktionismus und Kontext Kunst; als Kurator präsentierte er die postkoloniale Kunst wie die Kunst im Netz globaler Medien; er ist Herausgeber, Ausstellungsmacher, Kurator, Museumsdirektor, Festivalleiter, Kunstlehrer, Hochschulprofessor und war schon Rocksänger. Oder Umberto Eco, der Romancier, Semiotiker und Unterhalter; oder Roger Willemsen, der Talkshowmaster, Literaturkritiker, Buchautor und Filmunternehmer; oder Jutta Koether, die Bildende Künstlerin, Hochschullehrende, Popism-Autorin und Zeitschriftenherausgeberin; oder Pipilotti Rist, die Medienkünstlerin, Kuratorin, Moderatorin und Entertainerin.

Der Entwurf flexibler, durchmischter Lebens- und Arbeitsweisen beinhaltet das Streben nach andauernder Jugendlichkeit. Wieder ist man an Hubert Fichte erinnert, der das Beharren auf der Pubertät als die wesentliche Voraussetzung für künstlerisches Schaffen bezeichnete. Für die Generation X sind Flexibilität, Mixen, Driften und das Nebeneinander von analytischem Scharfsinn und Infantilität typisch – und tatsächlich beziehen sich Pop- und Technozusammenhänge häufig auf historische Bewegungen, die die Idee Jugend zum Gegenstand machten: vor allem auf Lettrismus und Situationismus als die eigentlichen, im verborgenen gebliebenen Avantgarden der europäischen Nachkriegsära.

Der Lettrismus – eine Avantgardebewegung im Nachkriegs-Paris – hatte zum ersten Mal das Lebensgefühl angesprochen, das man seit den sechziger Jahren mit Jugendkultur umschreibt. Begründet von Isidore Isou, hatte er knapp nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Befindlichkeit und deren Dilemma vorgeführt, die Jugend nicht mehr altersgebunden, sondern als Konzept meint. Baudelaire hätte die Anekdote zugunsten der poetischen Form zerstört, Verlaine die poetische Form zugunsten der einzelnen Verszeile, Rimbaud den Vers zugunsten des Wortes, Mallarmé schließlich hätte den Klang betont und das Wort vollendet. Dada hätte den Glauben an das Genie und die Überzeugung zerschmettert, Gott segne den Künstler mit besonderen Gaben; seit Dada hocke die Kunst in einem Komposthaufen. Und nach Joyce, dessen Romane die Kommunikation selbst in Frage gestellt hätten, war für Isou auch echte Kommunikation unmöglich geworden. Die Wörter hätten sich ihrer Bedeutung entledigt und schwebten frei herum – er wolle daher, erklärte Isou, den Buchstaben vor dem Wort retten und als Zeichen in den Äther entlassen.

Isous Manifest war von einer Klage und einem Jammer getrieben, die spätestens seit der Romantik immer wiederkehren und die Moderne begleiten. In ihrer existentiellen Krise wollten die Lettristen mit neuen Formen, die sie der Teilchenphysik entnahmen, alles auflösen und ersetzen: die Poesie, die Musik, den Tanz, die Philosophie, das Theater, den Film, die Theologie, die Fotografie, das Radio und das Fernsehen. Ihre Methoden waren pennälerhafte Übertreibung und kindliche Disziplinlosigkeit, und ihre Selbstinszenierungen nahmen etwas vorweg, was man später die Performance von Popstars nennen sollte. Sie verstanden Jugendkultur als ein Leben, das sich nach den jeweiligen Situationen richte und auch so zu beurteilen sei.

Etwa zur selben Zeit war im Amerika der vierziger Jahre der jugendorientierte Markt als ein neuer Wirtschaftszweig entstanden: Die Verdinglichung der Idee Jugend steht seit damals – von den Lettristen bis zu den gegenwärtigen Pop- und Technozusammenhängen – im Mittelpunkt des avantgardistischen Interesses. Deswegen wirken auch einige Aktionen der Wiener Gruppe aus den fünfziger Jahren bis heute so erfrischend jung.

Aus dem Lettrismus war die Situationistische Internationale hervorgegangen, eine Avantgarde, die Jugend in der Konsumkultur radikaler als alle Bewegungen zuvor zum Gegenstand ihrer Aktionen machte. Zwischen 1957 und 1968 schufen die Situationisten Schriften, Manifeste, Bilder und vor allem etwas, was sich mit Werkbegriffen nicht mehr festmachen ließ: Ihre artistische Hervorbringung war buchstäblich nichts, eine Antikunst, ein Bohèmeleben, das sich als Protest gegen die Verhältnisse verstand und für sich beanspruchte, eine Zukunft jenseits dieser Verhältnisse vorwegzunehmen. Mit dem Situationismus rückte folglich die künstlerische Avantgarde deutlich in das Feld der Subkultur.

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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