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Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

7) Event und Technik

Von der Intellektualisierung des Elends spricht Jochen Schütze, wenn er die Auffüllung eines leeren Avantgardebegriffes mit dem Fremden an den Pranger stellt. Nach der technischen Reproduzierbarkeit zu Beginn der Moderne bedeutet die gegenwärtige Verschleifung des Gegensatzes von Produzent und Konsument in den elektronischen Netzwerken eine zweite soziale Revolution im System Kunst. Auf dem Niveau der anspruchsvollsten Technologien wird nämlich die Gegenüberstellung von Elfenbeinturm und Engagement überholt. Während sich die Avantgarde der sechziger Jahre der politischen Forderung noch entziehen konnte, durchdringt die neue technologische Forderung die letzten Schlupfwinkel der Produktivität. Die beste aller Welten ist keine Ideologie mehr, sondern Hardware.

Lange bevor virtuelle Realität zum Thema der Popkultur wurde, experimentierte der australische Künstler Stelarc mit neuen Technologien und mit seinem eigenen Körper. Stelarcs Performances erinnern an Frankensteins Laborgeburt, an die Selbstzerstümmelungen der Wiener Aktionisten und an die Schaffung außerplanetarischer Kreaturen aus der Raumschiffserie Star Trek. Seit den siebziger Jahren setzt das technoide Experiment Stelarcs Körper als eine Art menschlichen Terminal, der in das weltweite Kommunikationsnetz eingebunden ist, in Szene. Mit seinem Amplified Body, den Laser Eyes, der Third Hand und dem Video Shadow verkörpert er die hybride Mensch-Maschine, in die wir uns im übertragenen Sinn immer mehr verwandeln. Chirurgie und Hochtechnologie bastelten aus Stelarc den Cyberpunk in Reinkultur, eine Kreatur aus der Science-Fiction-Literatur. Mit einem Gewirr von technischen Tentakeln, angeschlossen an hochentwickelte Computer, erweitert Stelarc nicht nur seine Sinne. Er hebt auch den Unterschied zwischen dem, der kontrolliert, und dem, was kontrolliert wird, auf. Die computergenerierten Sinne, die er sich implantieren läßt, zwingen ihn zu Bewegungen, die ihn in eine Art Technotrance versetzen, von einem Technogeist besessen.

Als ein mechanisches Ritual knüpfte das technologische Experiment an die Tradition der Body Art an, die wiederum in den sechziger Jahren aus der Konzeptkunst entstanden war. Body-Art-Künstler wie Bruce Nauman oder Chris Burden hatten ähnlich wie die Wiener Aktionisten ihren eigenen Körper als eine Leinwand bearbeitet. Die amerikanische Body Art war wie der Aktionismus durch extreme Brutalität, aber auch durch einen unterkühlten Formalismus gekennzeichnet gewesen. In Reaktion darauf betonten in den siebziger Jahren die feministischen Performances die politischen und die persönlichen Beweggründe für Körperkunst. Feministische Performancekunst richtete das Augenmerk auf ihren eigenen Körper als Kriegsschauplatz patriarchaler Ordnung.

In der technologischen Lesart Stelarcs ist der Körper nicht mehr Sitz des Sozialen. Die klinische Distanzierung zu seinem Körper gehört zum Wesen der Performances, ob sich Stelarc mit Haken durchbohren und sich aufhängen oder sich verkabeln und mit High-Tech-Prothesen aufrüsten läßt. Das Experiment zelebriert eine Art Theater der Grausamkeit; der menschliche Körper wird zur durchlässigen Membran.

Mit Stelarc wanderte das Experiment in die Technologie ab und blieb doch von einem literarischen Gestus beseelt. Körper und Geist müssen auseinanderdividiert werden, das sinnliche Leben getilgt, um künstlerisch verwandelt im Cyborgdasein eine synthetische Qualität zugesprochen zu bekommen. Die Verschmelzung von Computertechnologie und Schönheitsmythos kennt eine Entsprechung in der Verschmelzung von Literatur und Schöngeist, und die fotogene Pose der Models findet die ihre in den erhabenen Darstellungen der Seelen. So läßt sich die französische Performance-Künstlerin Orlan eine Gesichtsschablone aus digitalisierten Details berühmter Bilder der Kunstgeschichte operieren; Rilkes Gedichtfrauen hätten womöglich Orlans designtes Gesicht. Der Cyborg, der sich vom Anhängsel des vergänglichen Körpers befreit, steht in der Tradition des Poeten.

Als selbstgewisse künstliche Intelligenz sind die Computerumgebungen auf eine verwirrende Weise quicklebendig. Ihre Hauptdarsteller vereinen hingegen stoische Resignation, existentielle Langeweile und Zukunftsschock in sich. Donna Haraway entwarf mit ihrem Manifest für Cyborgs eine Art hybride Nichtfrau, die in einem einzigen Körper Maschine und Organismus, Kultur und Natur, Zukunftsland und Arkadien, Trugbild und Original, Science Fiction und soziale Wirklichkeit in Einklang bringt. Dem Partiellen, der Ironie, der Intimität und Perversität verpflichtet, ging dieser zwitterhafte Cyborg aus der Lust an machtvollen und tabuisierten Fusionen hervor.

Mit dem Cyborg ist nicht nur Gott tot, sondern auch die Göttin, haben Mensch und Natur das Naturhafte verloren. Dahinterschauen und An-der-Oberfläche-Bleiben, Anstrengung und Vergnügen, Arbeit und Freizeit erfahren unter technologischen Vorzeichen nicht nur ihren industriellen Standard, sondern werden auch zu hybriden Kategorien. Informationsgesellschaft bedeutet auch Erlebnisgesellschaft, und Ästhetisierung des Alltags, daß Kommunikation selbst zur Botschaft der Medien wird.

Und wie hatte das alles begonnen?

Als 1869 zwei Lokomotiven der Union Pacific und der Central Pazific im Mittelwesten der Vereinigten Staaten langsam aufeinander zufuhren, warteten nicht nur Spaliere von Arbeitern auf den Augenblick, da der letzte Nagel in die Schwelle geschlagen würde, mit der sie die Geleise zur transamerikanischen Eisenbahn verbanden. Dieser Schwellennagel war so geschickt mit der Telegraphenleitung verbunden, daß jeder Schlag in alle Welt übermittelt werden konnte. Zwar verfehlte der Central-Pazific-Präsident den Nagel, der Telegraphist sandte aber das Signal trotzdem ab. In Sacramento feuerten die Kanonen, und in San Francisco tanzten die Menschen auf der Straße. Das erste Medien-Event war eine Täuschung, ein Fake. Ein Maschinenspektakel zog wenig später eine riesige Menschenmasse an. Zwei Lokomotiven steuerten mit Höchstgeschwindigkeit auf Kollisionskurs und krachten ineinander. Ein Eisenbolzen traf den Mann, der den Zusammenstoß fotografierte, und raubte ihm sein Augenlicht. Neugierige Zuschauer, die hohe Eintrittspreise bezahlt hatten, drängten sich um die Trümmerhaufen der völlig zerstörten Lokomotiven.

Eine technische Vision zur Überwindung von Raum und Zeit hatte die Moderne eingeleitet. Was der anonyme Chronist über den Schwellennagel und die Telegraphenleitung berichtet hatte, befragen am Ende unseres Jahrhunderts künstlerische Netzwerkprojekte auf ihren utopischen Horizont hin. Internationale Radio- und Internet-Projekte wie Horizontal Radio oder Rivers&Bridges kennen kein Zentrum und keinen Autor, in dessen Bewußtsein Konzept und Ausführung zusammenlaufen. Künstler, Techniker, Wissenschafter, Experten und Hobbyisten unternehmen über ein Netz aus Radiostationen und Internetknoten eine gemeinsame Anstrengung um ein vorgegebenes Thema. Jeder Beitrag bedeutet Anhäufung von Informationen und erzeugt rund um einen festgelegtes Termin aus dem Datenfluß ein Medien-Event, in dem sich die Kultur des technologisch ehrgeizigen Weltteils darstellt. Das Event konstituiert sich aus einem Netzwerk von Performances, Installationen, Lesungen, Radioaktionen, Klangteppichen, Soundmixes und Internetprojekten. Man kann an unterschiedlichsten Stellen daran teilnehmen, über Radiosender, durch einen Internetzugang oder bei einer der Veranstaltungen an den verschiedenen Orten.

Schon die experimentelle Literatur der sechziger Jahre hatte sich an einer Brief- und Postkarten-Lyrik versucht, am dichterischen Transport von Information zwischen verschiedenen Geographien. Fax-, Copy-Art und E-Mail-Kunst entwickelten die interaktive Kunst weiter, eine Kunst, die mit den Internet-Projekten nicht nur ihre technologisch anspruchsvollste Ausformung erfuhr, sondern auch den Werkbegriff herkömmlicher Kunst hinter sich ließ.

Seit Erfindung der Fotografie war das Geheimnis um das, was Kunstwerke verkörpern, durch eine Reihe technischer Erfindungen zunehmend zerschlagen worden. Vor und während des Ersten Weltkrieges traten mit den Ready-Mades von Marcel Duchamp die ersten wirklich verängstigten Objekte in der industriellen Kultur auf. Ein Ready-Made ist ein Gegenstand, der erst durch Ankündigung, Bewerbung, Befragung und Kommentar geschaffen wird, also von so fragwürdiger Echtheit wie jedes millionenfach hergestellte Produkt. Objekte wie Duchamps Kloschüssel sind sich ihrer Identität nicht sicher und daher auf Vermittlung angewiesen. Nützliche Alltagsgegenstände einerseits, stellen sie – zum Kunstwerk erklärt – zugleich etwas anderes dar und werden in diesem Spannungsfeld zum Medium ohne Inhalt.

Fünfzig Jahre nach Duchamps prophetischem Statement erforschte Andy Warhol die ganze Bandbreite medialer Flüchtigkeit. In der Kunst des Kommerzes ist alles durch die Frage, ob es sich verkauft habe, bestimmt, und Warhol gelang es, diese Frage in seine Kunst zu integrieren. Die Collage entwickelte sich zur vorherrschenden Kulturtechnik: War es vor wenigen Jahrzehnten noch eine Sensation, einen in Mailand erzeugten Klang in New York hörbar zu machen, so zählt heute auch das Sampling der unterschiedlichsten Materialien zum kulturellen Standard. In der Technik der Sound-Collagen wird jeder Klang digital bearbeitet und immer wieder mit neuem Klangmaterial abgemischt. Das Collagieren geht Robert Adrian X zufolge von einem kulturellen Universum aus, das sich wie Borges’ Bibliothek von Babel aus sämtlichen aufgezeichneten Tönen und Bildern in allen denkbaren und undenkbaren Kombinationen und Versionen zusammensetzt. Der Künstler navigiert und surft darin herum, arrangiert und kombiniert, fügt aber nichts hinzu als die Änderung selbst.


Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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