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Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

6) Avantgarde und bürgerliche Öffentlichkeit

In den neuen Milieus – ob Clubkultur, Netzwerke, Zusammenhänge, Do-it-yourself-Szene oder Hip-and-Go-Bewegungen – gilt das Werk wenig, einen großen Wert erlangen hingegen flexible Arbeits- und Konsummodelle und ein-Sich- treiben-Lassen.
Was bedeutet dann noch Avantgarde? Welche Funktion hatte sie und wessen Vorreiterin war sie einmal? Wenngleich die Verlage, der Handel und die Medien, die Universitäten, Institutionen und Stiftungen – also Markt und Staat – erst den Literaturbetrieb zusammensetzen, versteht sich das literarische Milieu als autonom. Der Vorläufer des gegenwärtigen Betriebes, der literarische Salon, erhellt ebenso wie die Kunstvereine seine Verfaßtheit.
Die Funktion der Avantgarde lag darin begründet, zur Bildung von bürgerlicher Öffentlichkeit beizutragen. In der modernen Welt nahm die künstlerische Provokation die Stelle ein, die in der feudalen Gesellschaft die religiöse Blasphemie besetzt hatte. Mit ihrem paradoxen Zustand, zur bürgerlichen Welt und zugleich nicht zu ihr zu gehören, bändigte die avantgardistische Provokation das Andere, den Abgrund hinter der wohlgehüteten Ordnung, das Unbewußte, wie Freud es nennen sollte, und das Revolutionäre als Individualanarchismus, wie Max Stirner es verstand.
Der Autonomiebegriff der Kunst trat in der Folge der Gründung der ersten Museen im frühen 19. Jahrhundert auf. Das Museum wiederum war beteiligt an der Entwicklung der nationalen Gesellschaften, hiemit der Festschreibung der modernen Wissensordnung. In den entstehenden europäischen Nationalstaaten stifteten der Roman und die Zeitung die kulturelle Identität der neuen nationalen Bürger. Im Museum, im Kunstverein, im literarischen Salon und in der Zeitungsredaktion ereignete sich die Debatte um die bürgerliche Gewißheit. Einen in dieser Hinsicht aufschlußreichen Zusammenhang, auf den Douglas Crimp hingewiesen hat, vermittelt die Gleichzeitigkeit der Gründung des ersten Museums – des Fridericianums in Kassel – und der Ausbildung der modernistischen ästhetischen Theorie. Museen bedeuteten die Befreiung des Künstlers von seinem höfischen und kirchlichen Auftraggeber, der die Inhalte und die Orte der Kunst festgeschrieben hatte; sie ermöglichten von nun an eine ortsungebundene, autonome Kunst. Infolgedessen strebte der moderne Künstler nach dem Meisterwerk und nach der Aufnahme ins Museum.
Ebenfalls im frühen 19. Jahrhundert wurde die Fotografie erfunden. Damit und mit den entsprechenden Möglichkeiten der Vervielfachung erhob Bildende Kunst – ähnlich wie dreihundertfünfzig Jahre zuvor die Literatur mit der Erfindung des Buchdruckes – ihren universellen Anspruch. Am Ende dieser Entwicklung erlangte in den siebziger Jahren unseres Jahrhunderts die Fotografie Kunstrang, nach hundertfünfzig Jahren technischer und gesellschaftlicher Evolution, eine Entwicklung, die heute den elektronischen Medien den Kunst-Status von vornherein nicht mehr verwehrt. Zweifelhaft allerdings erscheint damit die Losgelöstheit des Kunst- und Literaturbetriebes.
Bürgerliche Öffentlichkeit war Philippe Sollers zufolge im Kräftemessen der Gutdenker und der Schlechtdenker entstanden, in einem Ausschlußverfahren, das die moderne Lebensart, Arbeitsdisziplin und Lustfeindlichkeit, rechtfertigte. Den Gutdenkern der Bürger standen mit Künstlern wie Charles Baudelaire oder Arthur Rimbaud die Schlechtdenker gegenüber. Ausschluß sollte von nun an die wirtschaftliche Grundlage für Künstler bedeuten; sie wurden zu den Schamanen der bürgerlichen Öffentlichkeit, verachtet gleichwie verehrt, gemieden gleichwie aufgesucht. Künstlerische Avantgarde bedeutete ein Elixier, das nur wenigen – den Gebildeten und Eingeweihten – zugetraut werden konnte. Dämonisiert, sektenhaft gruppiert oder den Ruf der Einsiedlerei pflegend, inszenierte die Avantgarde des 19. Jahrhunderts ihren elitären Status.
Noch in der Revolte von 1968 funktionierte das Verfahren der Provokation, des Ausschlusses und der Dissidenz als ein Mechanismus, der am Bau der bürgerlichen Öffentlichkeit mitmischt. Nicht nur erweist sich inzwischen, daß Medien und Industrie jegliches Andersdenken und Abweichen sofort vereinnahmen können – zudem liegt die Vermutung nahe, daß Andersdenken und Abweichen schon immer dieselbe Logik verfolgten. Und, was noch schwerer wiegt, daß die Vorstellung von Avantgarde als einer Gruppe, die die Gesetze und die Richtung der Geschichte bevorzugt zu kennen vorgibt, nicht in die Medienwelt übergeführt werden kann. In der medialen Verfaßtheit verwandelt sich das Politische zum Sozialen, wird der Gestus des Avantgardisten zu Lifestyle und Chic.
Am Beginn des 20. Jahrhunderts orientierte sich die künstlerische zunehmend nach der politischen Avantgarde. Auch Lenins Partei hatte ihre Wurzeln in den Cafés, Salons und Zeitungsredaktionen des 19. Jahrhunderts. Nun sollte die bürgerliche Gesellschaft zerschlagen werden und damit auch die Begrenztheit des künstlerischen Milieus. Im Anspruch der Avantgarde mußte das moderne Meisterwerk zerspalten und zertrümmert, die künstlerische Aktion in Richtung Alltag und Gesellschaft überschritten werden.
Mit dem Ziel, die bürgerliche Welt nicht nur mehr herauszufordern, sondern auch zu überwinden, begrüßten futuristische Künstler den Faschismus, expressionistische den Nationalsozialismus und die russische Avantgarde den Stalinismus. Avantgarde verband sich mit Totalitarismus und Gewaltherrschaft, weil ihre autonome Rolle in der bürgerlichen Welt den radikalen, aber auch elitären Gesellschaftsentwurf immer schon herausgefordert hatte, ja die Avantgarde war, wie die Analysen von Jean Clair bezeugen, mitnichten immer auf seiten der Aufklärung, der Vernunft und der Humanität gestanden. Fast alle großen Strömungen, auch Surrealismus, Suprematismus oder Konstruktivismus, kompromittierten sich politisch, wobei die Nähe zum Terror nicht nur in persönlicher Natur, sondern auch in einer wesensmäßigen Wahlverwandtschaft angelegt war.
Erst nach 1945 entstand der zentrale Mythos zeitgenössischer Kunst, ...

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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