|
|
6) Avantgarde und
bürgerliche Öffentlichkeit
In den neuen Milieus ob Clubkultur, Netzwerke,
Zusammenhänge, Do-it-yourself-Szene oder Hip-and-Go-Bewegungen gilt das Werk
wenig, einen großen Wert erlangen hingegen flexible Arbeits- und Konsummodelle und
ein-Sich- treiben-Lassen.
Was bedeutet dann noch Avantgarde? Welche Funktion hatte sie und wessen Vorreiterin war
sie einmal? Wenngleich die Verlage, der Handel und die Medien, die Universitäten,
Institutionen und Stiftungen also Markt und Staat erst den Literaturbetrieb
zusammensetzen, versteht sich das literarische Milieu als autonom. Der Vorläufer des
gegenwärtigen Betriebes, der literarische Salon, erhellt ebenso wie die Kunstvereine
seine Verfaßtheit.
Die Funktion der Avantgarde lag darin begründet, zur Bildung von bürgerlicher
Öffentlichkeit beizutragen. In der modernen Welt nahm die künstlerische Provokation die
Stelle ein, die in der feudalen Gesellschaft die religiöse Blasphemie besetzt hatte. Mit
ihrem paradoxen Zustand, zur bürgerlichen Welt und zugleich nicht zu ihr zu gehören,
bändigte die avantgardistische Provokation das Andere, den Abgrund hinter der
wohlgehüteten Ordnung, das Unbewußte, wie Freud es nennen sollte, und das Revolutionäre
als Individualanarchismus, wie Max Stirner es verstand.
Der Autonomiebegriff der Kunst trat in der Folge der Gründung der ersten Museen im
frühen 19. Jahrhundert auf. Das Museum wiederum war beteiligt an der Entwicklung der
nationalen Gesellschaften, hiemit der Festschreibung der modernen Wissensordnung. In den
entstehenden europäischen Nationalstaaten stifteten der Roman und die Zeitung die
kulturelle Identität der neuen nationalen Bürger. Im Museum, im Kunstverein, im
literarischen Salon und in der Zeitungsredaktion ereignete sich die Debatte um die
bürgerliche Gewißheit. Einen in dieser Hinsicht aufschlußreichen Zusammenhang, auf den
Douglas Crimp hingewiesen hat, vermittelt die Gleichzeitigkeit der Gründung des ersten
Museums des Fridericianums in Kassel und der Ausbildung der modernistischen
ästhetischen Theorie. Museen bedeuteten die Befreiung des Künstlers von seinem
höfischen und kirchlichen Auftraggeber, der die Inhalte und die Orte der Kunst
festgeschrieben hatte; sie ermöglichten von nun an eine ortsungebundene, autonome Kunst.
Infolgedessen strebte der moderne Künstler nach dem Meisterwerk und nach der Aufnahme ins
Museum.
Ebenfalls im frühen 19. Jahrhundert wurde die Fotografie erfunden. Damit und mit den
entsprechenden Möglichkeiten der Vervielfachung erhob Bildende Kunst ähnlich wie
dreihundertfünfzig Jahre zuvor die Literatur mit der Erfindung des Buchdruckes
ihren universellen Anspruch. Am Ende dieser Entwicklung erlangte in den siebziger Jahren
unseres Jahrhunderts die Fotografie Kunstrang, nach hundertfünfzig Jahren technischer und
gesellschaftlicher Evolution, eine Entwicklung, die heute den elektronischen Medien den
Kunst-Status von vornherein nicht mehr verwehrt. Zweifelhaft allerdings erscheint damit
die Losgelöstheit des Kunst- und Literaturbetriebes.
Bürgerliche Öffentlichkeit war Philippe Sollers zufolge im Kräftemessen der Gutdenker
und der Schlechtdenker entstanden, in einem Ausschlußverfahren, das die moderne
Lebensart, Arbeitsdisziplin und Lustfeindlichkeit, rechtfertigte. Den Gutdenkern der
Bürger standen mit Künstlern wie Charles Baudelaire oder Arthur Rimbaud die
Schlechtdenker gegenüber. Ausschluß sollte von nun an die wirtschaftliche Grundlage für
Künstler bedeuten; sie wurden zu den Schamanen der bürgerlichen Öffentlichkeit,
verachtet gleichwie verehrt, gemieden gleichwie aufgesucht. Künstlerische Avantgarde
bedeutete ein Elixier, das nur wenigen den Gebildeten und Eingeweihten
zugetraut werden konnte. Dämonisiert, sektenhaft gruppiert oder den Ruf der Einsiedlerei
pflegend, inszenierte die Avantgarde des 19. Jahrhunderts ihren elitären Status.
Noch in der Revolte von 1968 funktionierte das Verfahren der Provokation, des Ausschlusses
und der Dissidenz als ein Mechanismus, der am Bau der bürgerlichen Öffentlichkeit
mitmischt. Nicht nur erweist sich inzwischen, daß Medien und Industrie jegliches
Andersdenken und Abweichen sofort vereinnahmen können zudem liegt die Vermutung
nahe, daß Andersdenken und Abweichen schon immer dieselbe Logik verfolgten. Und, was noch
schwerer wiegt, daß die Vorstellung von Avantgarde als einer Gruppe, die die Gesetze und
die Richtung der Geschichte bevorzugt zu kennen vorgibt, nicht in die Medienwelt
übergeführt werden kann. In der medialen Verfaßtheit verwandelt sich das Politische zum
Sozialen, wird der Gestus des Avantgardisten zu Lifestyle und Chic.
Am Beginn des 20. Jahrhunderts orientierte sich die künstlerische zunehmend nach der
politischen Avantgarde. Auch Lenins Partei hatte ihre Wurzeln in den Cafés, Salons und
Zeitungsredaktionen des 19. Jahrhunderts. Nun sollte die bürgerliche Gesellschaft
zerschlagen werden und damit auch die Begrenztheit des künstlerischen Milieus. Im
Anspruch der Avantgarde mußte das moderne Meisterwerk zerspalten und zertrümmert, die
künstlerische Aktion in Richtung Alltag und Gesellschaft überschritten werden.
Mit dem Ziel, die bürgerliche Welt nicht nur mehr herauszufordern, sondern auch zu
überwinden, begrüßten futuristische Künstler den Faschismus, expressionistische den
Nationalsozialismus und die russische Avantgarde den Stalinismus. Avantgarde verband sich
mit Totalitarismus und Gewaltherrschaft, weil ihre autonome Rolle in der bürgerlichen
Welt den radikalen, aber auch elitären Gesellschaftsentwurf immer schon herausgefordert
hatte, ja die Avantgarde war, wie die Analysen von Jean Clair bezeugen, mitnichten immer
auf seiten der Aufklärung, der Vernunft und der Humanität gestanden. Fast alle großen
Strömungen, auch Surrealismus, Suprematismus oder Konstruktivismus, kompromittierten sich
politisch, wobei die Nähe zum Terror nicht nur in persönlicher Natur, sondern auch in
einer wesensmäßigen Wahlverwandtschaft angelegt war.
Erst nach 1945 entstand der zentrale Mythos zeitgenössischer Kunst, ...
Dies ist ein Textauszug!
Das vollständige Kapitel
können Sie HIER
als RTF-File downloaden.
Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)
Respektieren Sie bitte die Rechte des Autors und des Verlages. Diese
online-Fassung ist nur zur privaten Lektüre verfügbar.
Kontakt:
haymon@aon.at
grond@magnet.at
|
|