[17•99]

Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

3) Postkolonialismus, Pop, Netz

Postkolonialismus

Immer mehr Leser wandern zu außereuropäischen Literaturen ab. Daß ein Ethnologe wie Hans Peter Duerr mit kritischen Schriften über den modernen Zivilisationsprozeß und mit streitbaren Thesen gegen die Fortschrittstheorie von Norbert Elias ein erfolgreicher Buchautor werden konnte, hat auch die systembedingten Migrationen der letzten beiden Jahrzehnte zum Hintergrund. Der in Europa wachsende Rassismus vergrößert die Aufmerksamkeit für das Fremde ebenso, wie es die vielen multikulturellen Aspekte der Popkultur tun.

Seit den achtziger Jahren bringt die postkoloniale Kultur eine große Zahl von kleinen Literaturen hervor. Politisch wie poetisch richtungsweisend war der Nobelpreis für Gabriel García Márquez; zugleich stieg mit dem Ferntourismus die Neugierde für die Literatur der bereisten Länder. Das Exil in Europa, in das viele Autoren gezwungen waren, verstärkte zudem die Aufmerksamkeit für lateinamerikanische Literatur. Julio Cortázar, Isabel Allende oder Octavio Paz lebten in Paris, auch viele Schriftsteller aus der Sowjetunion – eine Parallele zur Zwischenkriegszeit, als Paris das Ziel von Iren und Amerikanern sowie von Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich gewesen war. Das wachsende Interesse an der lateinamerikanischen Literatur in den achtziger Jahren geht nicht zuletzt auch auf die mit dem Beginn des Fern-Tourismus verbundenen esoterischen Hoffnungen zurück, die zivilisationsmüde Bildungsbürger in fremde Kulturen setzen. Entsprechend folgt heute der Buchmarkt den touristischen Erschließungen rund um die Welt.

Salman Rushdie, der postkoloniale Schriftsteller schlechthin, steht mit seinem Leben und Werk im Zentrum eines neuen kulturellen Kanons, der auch die Voraussetzungen der europäischen Literaturen verändert. Globale Technologien verhelfen den Hervorbringungen des angloamerikanischen Raums zur weltweiten Vorherrschaft; mit der Globalisierung der Märkte kommen aber auch die Erzählungen ferner Länder zum Vorschein. In den außereuropäischen Literaturen finden europäische Leser Geschichten über die Konflikte und Hoffnungen, die großen und kleinen Gefühle von Alltagsmenschen. Die Abwanderung europäischer Leser zu fremden Literaturen spiegelt, wie der Rand der Welt auf das Zentrum hin drängt und die leeren Stellen dieses Zentrums besetzt.

Was bisher als Dritte Welt ausgegrenzt war, nimmt heute inmitten des Eigenen Platz. Der gesellschaftliche Wandel fordert neue Erzählungen ebenso wie das Selbstverständnis europäischer Autoren heraus. Längst bereichern die Geschichten vom Überlebenskampf der Migranten, von ihren Auseinandersetzungen mit der Gemeinschaft, der Natur und allem, was sie sich nicht erklären können, unsere Literatur. Dichtung im deutschen Sprachraum bedeutet inzwischen auch die von Dzevad Karahasan oder Kuma Ndumbe III, von Feridun Zaimoglu, Radek Knapp oder Irena Vrkljan.

Ihr Selbstbewußtsein entwickelt die postkoloniale Literatur vor dem Hintergrund soziologischer Analysen, die eine Vorstellung von nationaler Identität in das Umfeld rassistischer Politik rücken. Etwa zeigte Saskia Sassen, wie der Dienstleistungsbedarf von Konzernen die Ansiedlung von Einwanderern im Zentrum der Städte in den Industrienationen fördert – Migrationen also, die von den Industriestaaten herbeigeführt und gesteuert werden. Durch diesen Prozeß löst sich das Zentrum in mehrere Zentren auf, und die telekommunikativen Techniken ermöglichen, daß die Innenstadt und das zentrale Geschäftsviertel unterschiedliche geographische Formen annehmen. Dem alten Stadtzentrum und seinen hochkulturellen Unternehmungen entspricht heute ein Schauplatz von mehreren, vernetzten Zentren, oder es hat keine räumliche Entsprechung mehr, weil es sich in einem abstrakten elektronisch hergestellten Raum, dem Cyberspace, darstellt. Durchsetzt ist das Zentrum aber immer von den vielfältigen Arbeitskulturen, die die angeworbenen Einwanderer in die inneren Bereiche der Städte tragen. Das Beklagen der Überfremdung und des Verlusts von Identität verschweigt, daß die aus allen Weltteilen zugewanderten Sekretärinnen und Putzkolonnen, die Lastwagenfahrer, die Techniker, Maler und Hausmeister, die Krankenschwestern und Straßenreiniger betreuen und betreiben, was die in die Vorstädte abgewanderte Mittelschicht zum Erhalt ihres Lebensstandards braucht.

Von der Mittelschicht geht jedoch der stärkste Kulturpessimismus aus – dieser spiegelt ihre Angst vor der heraufziehenden Welt der wenigen ganz Reichen und der vielen ganz Armen. In der Stadt konzentriert sich Vielfalt und gewinnen auch die an den Rand gedrängten Menschen an repräsentativer Macht. Geradezu ignorant gegenüber den Verschiebungen gesellschaftlicher Wirklichkeit wirkt der Großteil dessen, was man europäische Hochkultur nennt. In der zeitgenössischen Poetik meint Fluchtlinie meistens ein Verfahren, das die Arbeit an der Schrift als existentiellen Rettungsanker auswirft und die politische und soziale Bedingtheit aus dem dichterischen Regelwerk ausblendet. Mit der poetischen Flucht weichen viele Autoren vor den marxistischen Begriffen aus, die jahrzehntelang die intellektuelle Wahrnehmung geprägt hatten. Dahinter schlummert das größte Phantasma in diesem Jahrhundert: die Enttäuschung des Traums vom menschlichen Kommunismus und die Scham für die Bejahung des linken Totalitarismus.

Apartheid in der Literatur ist nicht neu. Folgte man der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts, ahnte man weder etwas vom entstehenden Haßexzeß gegen die Juden noch von der unterdrückten Rolle der Frauen im technischen Fortschritt. Karrieremigrationen bildeten das prototypische Romanthema, der soziale Aufstieg für Einzelne, den die Entwicklung der Kolonialreiche in Übersee ermöglichte. Die Helden Balzacs, Stendhals oder Thackerays zeichneten sich durch ihre Sehnsucht nach dem Stadtleben, ihren Ehrgeiz und den Haß auf alles Bestehende aus; und wenn sie scheiterten, wurde das auf die Maßlosigkeit ihrer Aufstiegswünsche zurückgeführt. Karrieren prägten die Erzählungen der Literatur, nicht aber das Leben der meisten Emigranten. Sie waren und sind, wie Richard Sennett feststellt, nicht damit beschäftigt, ihr Glück zu machen, sondern hilflos ihrem Schicksal ausgeliefert.

Mit dem Reich der Ausgeschlossenen rief die Geschichte der großen Flüchtlingsströme des 20. Jahrhunderts eine vollkommen neue Bedeutung des Begriffs Fremder hervor. Erst der moderne Nationalismus machte den Fremden zum Außenseiter und Ausgeschlossenen aus der bürgerlichen Gesellschaft. Die Internierung von Zivilisten in riesigen Flüchtlingslagern steht in der Folge einer Vorgeschichte: der industriellen Vernichtung jüdischer Mitbürger in deutschen Konzentrationslagern sowie der Vertreibung ganzer Völker in diesem Jahrhundert.

Die Abgeschlossenheit des Literaturbetriebes entspringt hingegen der Langeweile gegenüber der eigenen Kultur, die Claude Lévi Strauss in den Traurigen Tropen als Anlaß für die Neugierde an fremden Zivilisationen genannt hatte. Der Code für die entsprechende Anerkennung erfordert Anverwandtschaft von Leid; damit gemeint ist eine Aura des Ausgestoßen-, Verloren- und Verfolgtseins, die ein Autor ausstrahlt. Daß es nichts mehr zu erzählen gebe, ist ein Hauptsatz des Zivilisationsüberdrusses. Autoren empfinden sich heute häufig von den elektronischen Massenmedien um ihre Themen betrogen; nach ihrem Dafürhalten hat die Informationsgesellschaft die Aktualität in Verruf gebracht. So nimmt man einen Schriftsteller wie Ryszard Kapusinski mit seinen Erzählungen über den äthiopischen Kaiser, über Gefangenenlager im Sudan oder über Fußball als Journalisten wahr; und so erhält Faktizität wie in Ruth Klügers Holocaust-Roman erst mit langer Verzögerung die Weihe der Kunstwürdigkeit. Michel Foucaults Diskursgeschichten des Wahnsinns, der Krankheit, des Verbrechens, des Körpers oder der Sexualität hatten zwar zum erneuten Nachdenken über das Verhältnis von Wissen und Macht ermuntert. Gerhard Roths Archive des Schweigens, eine gewaltige Archäologie des Vergessens der Vergessenen im ländlichen und städtischen Österreich, erntete aber die weitgehende Geringschätzung des Literaturbetriebes.

Der postkolonialen Welt gegenüber unaufgeschlossen erweist sich eine Künstlergemeinschaft, die sich selbst als eine bedrohte Spezies empfindet. Mit Hubert Fichtes Lebenswerk existiert andererseits ein dichterischer Entwurf, der eine Unzahl von Anknüpfungspunkten für eine zeitgemäße künstlerische und politische Haltung liefert. Fichtes Werk stellt ein einzigartiges Zeugnis für den Zusammenhang von europäischen und südamerikanischen wie afrikanischen Kulturen dar. Entlang der Krise der Pubertät, die Fichte als Triebfeder für Kreativität und Kritik verstand, hat er Brücken von der Schwulenszene des Hamburger Hafenviertels zu den Voodooreligionen im afrokaribischen Raum entworfen. In Inhalt wie in Methode und Form führte er klarsichtig vor, wie sich der Blick der Kolonialisten als der europäische schlechthin ausmachen läßt.

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Das vollständige Kapitel
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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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