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Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace
[Inhalt]

 

2) Qualität und Zeitgenossenschaft

Die Vorstellung, die Qualität der Literatur veranschlage sich umso höher, je weniger verständige Leser sie habe, geriet Mitte der achtziger Jahre durch das Aufkommen einer populären Wissenschaftsliteratur ins Wanken. Ihr konnte man Tiefsinnigkeit kaum absprechen, und sie fand trotzdem ein Publikum: Hans Peter Duerr, Peter Sloterdijk, Vilém Flusser, Douglas Hofstadter, Paul Watzlawick oder Fritjof Capra waren Wissenschafter, die plötzlich als Querdenker die Position von Avantgardeautoren einnahmen. Mit Stephen Hawking sollte Anfang der neunziger Jahre auch naturwissenschaftliche Literatur populär werden, und schließlich endet dieses Jahrhundert mit einer vor einem großen Publikum ausgetragenen Kontroverse von Kultur- und Naturwissenschaftern über richtiges und falsches Denken. In der Flut der Publikationen, Festivals, Symposien, Tagungen und Seminare des Kunstbetriebes ebenso wie der Wirtschaft und der Erwachsenenbildung spielen inzwischen die Querdenker die Rolle, die ehemals Querschreiber innehatten. Die Ökonomie der Aufmerksamkeit hatte in den achtziger Jahren ihr Augenmerk auf kulturwissenschaftliche Texte verlagert, die das Bewußtsein für den technikbedingten Kulturwandel vorbereitete.

Wie reagierte darauf das literarische Feld?

Überfallsartig brach mit der Postmoderne die avantgardistische Problematik in die literarische Moderne ein. Einschnitte nannte Hubert Winkels diese Veränderung der Kunstvorstellungen, die mit der wohlwollenden Aufnahme der neuen französischen Philosophie und von Phänomenen urbaner Popkultur einherging. Eine Literatur des unbekümmerten Spiels, der Maskerade wie der freundlichen Unendlichkeit von Geschichten über Geschichten stand plötzlich neben Archaik und Apokalypse, gesellschaftskritische neben bekenntnishafter Literatur, neudeutsche Empfindsamkeit neben Texten, in denen das Bewußtsein ihrer medialen Verfaßtheit eingeschrieben ist. Eine Autorengeneration trug nicht unwesentlich dazu bei, Philosophen wie Jacques Derrida, François Lyotard oder Gilles Deleuze ins Licht öffentlicher Auseinandersetzung zu rücken; parallel zur Aufmerksamkeit für Zeichen, die von ihren Bedeutungen frei sind, stellten Philosophinnen wie Julia Kristeva, Luce Irigaray oder Eva Meyer vehement die Frage nach der Geschlechterdifferenz.

In vielen Schriften der Postmoderne zeigt sich eine dichte Verbindung von hohem Kunstanspruch und ausgeprägter Selbstreflexion. Die Erkenntnis, daß Texte nicht authentisches Erleben wiedergeben, führt zu einem anderen Gebrauch des Zitats. Das nicht mehr zitierende Zitieren – also ein Verwenden von literarischen Bruchstücken, als wären sie auf der Straße aufgefangene Redefloskeln – betont die Künstlichkeit der literarischen Erfindungen.

Diese Literatur auf der Höhe der medientechnischen Erfindungen legt die Unmöglichkeit echten Erlebens nahe und verwendet aufgelesene Medien-Zeichen gleichbedeutend mit Erinnerungen an eigene Geschichten: Elfriede Jelinek sampelt mehr als sie erfindet, Elfriede Czurda und Thomas Kling befördern ihren Stoff in einer sich selbst bewegenden Sprache. Daß wir gebrochene Existenzen führen, mit Körpern aus der Vergangenheit, Vorstellungen aus der Zukunft und einer Informationsflut in Form von Bildern über unsere Gegenwart, löst die Bezugspunkte einer geschlossenen bürgerlichen Biographie auf.

Erzählt werden heute vielfach nicht mehr die Biographie und ihre gesellschaftliche Bedingung, sondern die Bedingungen ihrer Vermittlung; das läßt sich bei verschiedensten postmodernen Autoren beobachten und durchzieht als Merkmal sämtliche Genres. Und doch besteht auch in der Postmoderne eine deutliche Trennlinie zwischen einer Literatur der Aktion und einer Literatur der Idee, wobei die Autoren einmal die Ansprüche und Lesegewohnheiten des Publikums mitbedenken, während sie das andere Mal auf der Abgeschlossenheit des künstlerischen Aktes beharren.

Ein erfolgreiches Beispiel für postmoderne Aktionsliteratur ist Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. Er trägt den Fähigkeiten Rechnung, die sich ein Publikum angeeignet hat, das Bildung und Unterhaltung nicht mehr getrennt sehen will; Eco versteht es, ein semiotisches Programm in Spannung überzuführen, genauso wie die zur selben Zeit populär gewordenen Wissenschaftsautoren. Auch angloamerikanische Autoren wie Bret Easton Ellis oder Tama Janowitz schreiben Aktionsliteratur: Zwar sind ihre Helden nur Schattenwesen, Untote, Masken; in American Psycho oder Slaves of New York spielen jedoch diese Untoten Leben – das Untote fungiert daher auch als Maskerade.

Der Großteil der deutschsprachigen Literatur stützt sich hingegen weiterhin auf ein Ideenprogramm. Hinter der Entseelung ihres Personals lagert oft unübersetzt das Privatleben der Autoren. Je weniger sich diese Literatur auf große Gefühle bezieht, umso komplexer, selbstreflexiver und gestenreicher wird sie. Postmoderne als nachexperimentelle Literatur bedeutet ein System der Dichtung, das praktisch ausschließlich Bezug nimmt auf beinahe ausschließliche Bezugnahmen auf Dichtung, also Kommentar um Kommentar zu Texten hervorbringt. Bezugspunkt für ein solches Schreiben ist nicht mehr die Lebenswelt, sondern die Reihe ihrer Darstellungen in der Literatur.

Die Leerstelle der Helden, die zur Identifizierung auffordern, wird dabei mit der Aura des Schreibaktes und seines abgeschlossenen Geheimnisses gefüllt. Derart kehrt die eben verabschiedete Authentizität des Erfahrenen als Echtheit des künstlerischen Aktes wieder. Die künstlerische Authentizität gibt vor, etwas zu bewahren, was sie ihren Lesern an Erlebens-Möglichkeit abspricht: Echtheit. Im Hochseilakt medienkritischen Verhaltens vollzieht so Literatur ihre eigene Auflösung. Sie macht die Auflösung der Seelen im Informationszeitalter nicht erfahrbar: Anstatt zu erzählen, wie traditionelle Lebenswelten ersetzt werden, geht sie selbst verloren – es ist ein Verschwinden, das sich in der wiederholten Ankündigung zu verschwinden ausdrückt.

Die postmoderne Fragmentierung des Wissens, ihr Zertrümmern der Wissens-Ordnung bereitete – im Rückblick erkannt – den Weg für die Netzwerkkultur. Zum Verständnis dieses Wandels ist es förderlich, sich in Erinnerung zu rufen, daß Eco bei Erscheinen von Der Name der Rose rigid als Einbrecher wie als Verräter geortet wurde. Die Trivialisierung von Expertenwissen, wie der Vorwurf an ihn lautete, beschert seit Jahren der Kultur- und der Naturwissenschaft nicht nur einen ungeahnten Leserboom, sondern bewirkt auch die Verlagerung der Debatte um Zeitgenossenschaft. Diese verkörpert heute nicht mehr die Kunst, sondern vielmehr die Wissenschaft – und weist dabei doch den Weg in die Literatur. In wissenschaftlichen Schriften rückt der Autor in den Vordergrund, fungiert die Autobiographie als Form, die man wählt, um abstrakte Erkenntnisse einem Nichtexpertenpublikum verständlich zu machen: Erzählende Texte übersetzen vielschichtige Sachverhalte in lebensweltliche Erfahrung.

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Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages
Aus: Walter Grond Der Erzähler und der Cyberspace, Essays, Haymonverlag
(Hardcover mit Schutzumschlag / ATS 291,00 / ISBN 3-85218-294-8)

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