[2099] |
Walter
Grond Der Erzähler und der Cyberspace
|
||
1) Der Autor, der
Leser, das Experiment
Warum schreibt Friederike Mayröcker eine hohe und warum Johannes Mario Simmel eine niedere Literatur? Ulrich Greiner spricht von einem Reich der Literatur und betont, daß erst der Eintritt in dieses Reich wirkliche Sprach- und Denkfähigkeit begründe. Sprach- und denkfähig wird demnach nur, wer liest, und nicht, wer vor dem Computer sitzt, Bilder betrachtet, Musik hört oder Filme anschaut. Und, so ist zu vermuten: ein Leser von hoher Literatur wird sprach- und denkfähiger als einer von niederer. Demnach schreibt Mayröcker eine hohe Literatur, weil ihre Leser der Sprache und des Denkens mächtig sein müssen, während das auf die Leser Simmels nicht unbedingt zutreffen mag. Was aber sind wirkliche Sprache und wirkliches Denken? Kennen nicht verschiedene Kulturen verschiedene Sprach- und Denkfähigkeiten? Und fordert nicht der Wandel zur Informations- und Erlebnisgesellschaft so unterschiedliche Fähigkeiten heraus, wie sie die Literaturen Mayröckers und Simmels aufrufen? Werden nicht die Voraussetzungen des Sprechens und Denkens gerade neu verhandelt? Ist daher nicht auch ein Nachdenken über das Lesen nötig, wenn vom Schreiben die Rede ist? Und nicht zuletzt: verhindert nicht das Außer-Zweifel-Stellen von Gipfelliteratur die anstehende Untersuchung, ob und wie sich die Kulturtechniken, die mit dem Buch bzw. mit dem Computer verbunden sind, gegenseitig befruchten? Kürzlich feierte das Feuilleton Raoul Schrott für eine akademische Vorlesung über die Geschichte der Poesie als Dichter. Die Poesie aller Zeiten und aller Kulturen, über die Schrott dozierte, war durch Mischung der Genres des Dichtens und des Redens über das Dichten zur DNA einer künstlerischen Selbstzeugung geworden. Raoul Schrott verkörperte in jenem Spektakel den Wiedergeborenen all der Dichter, die er in seine Anthologie aufgenommen, also erfunden hatte. Die Inszenierung um die Renaissance des Poeten umfaßte die bekannten Bestandteile gegenwärtiger Mystik-Computerspiele und bediente kindliche Regungen ebenso wie den Wunsch nach Wissenschaftlichkeit. Man konnte meinen, Raoul Schrott sei eine Erfindung des Cyberspace. Der im Radio dozierende, singende, lallende, lautmalende Hohepriester antiker Verse erweckte eine Aufmerksamkeit, die ihm in diesem Ausmaß als Autor eigener Gedichte und Prosa verwehrt geblieben war. Was bedeutet das Abpreisen hoher Literatur als Event und vor welchem Hintergrund geschieht es? Selbst leidenschaftlichen Verteidigern der hohen Kunst entgeht nicht, daß sich im zeitgenössischen Bewußtsein etwas wandelt und daß die Änderungen aus der Technik und der hinter ihr stehenden Wissenschaft herrühren. George Steiner spricht sogar von der Abenddämmerung der Kunst, der Morgenröte der Technik und hält nach dem richtigen Zeitpunkt Ausschau, um der Kunst ihr Ende zu bereiten. Heute sei nur noch Wissenschaft und Technik nach vorwärts gerichtet und zu Erneuerungen fähig, während die Kunst selbst ihren Anspruch, die Menschlichkeit zu steigern, längst verspielt habe. Kreativität verbinde sich nunmehr vor allem mit Wissenschaft. Das erklärte Ende der Kunst wäre auch ein erklärtes Ende der hohen Literatur, also jener, die Kunstanspruch stellt. Schluß gemacht wird aber nicht mit der Kunst, nicht mit der Literatur. Beide finden sich heute so mannigfaltig und eigenwillig betrieben wie nie zuvor. An ihr Ende kommt hingegen die Weihe der Kunst als ein Gebiet, das den anderen Disziplinen im Erkennen und Gestalten der Wirklichkeit überlegen sei. Die Vorstellung also, nur in der Kunst lasse sich die Wirklichkeit wirklich erkennen; eine Konzeption, aus der man ihre unantastbare Autonomie in der modernen Gesellschaft abgeleitet hat. Was heute tatsächlich ans Ende kommt, ist die Vorstellung der Kunst als Avantgarde, als Gewissen einer politischen Kultur, und hiemit auch die Konzeption der Avantgarde als dem eigentlich Hohen, als der Kunst, die Zukunft vorwegnehme. Der Kunstbegriff der literarischen Moderne der fünfziger und sechziger Jahre erfährt seit den siebziger Jahren seine Aufwertung: Hohe Literatur als Abgrenzung zur trivialen niederen meint ein Arbeitsbündnis, das seine Mitglieder, wenn auch ironisch und respektlos, in den historischen Zusammenhang der europäischen Avantgarde stellt. Diese unausgesprochene Entente von unterschiedlichsten Autoren schuf das gegenwärtige literarische Milieu. Neue Werke nehmen meist Bezug auf dessen Kanon, der im Kern fest und an den Rändern durchlässig ist. Ohne die Kenntnis einiger wesentlicher Parzellen der Literaturgeschichte und ihrer jeweiligen Ausformungen, besonders der zeitgenössischen, wird das Schaffen von hoher Literatur fast unmöglich. Pierre Bourdieu hat darauf hingewiesen, daß ein in seiner Entwicklung fortgeschrittenes künstlerisches Feld keinen Platz für jene biete, die die Geschichte des Feldes ignorieren. Die relative Autonomie des Feldes trete immer mehr in jenen Werken hervor, die ihren formalen Besitzstand und ihren Wert nur der Geschichte des Feldes verdanken: und eben damit bestärke sich die Autonomie des Feldes. Dies wiederum untersage zunehmend den Kurzschluß, also die Möglichkeit, von den Hervorbringungen der sozialen Welt direkt zu den Produkten des künstlerischen Feldes zu gelangen. Avantgarde als hohe Literatur legt rigoros den Vorrang des Schreibaktes gegenüber dem Lesevorgang fest. In der Tradition der klassischen Moderne sind ihre Kennzeichen das Sprachspiel und das Meisterwerk. Schreiben bedeutet für ihre Autoren primär Überbieten der Form; diese Autoren sind in ihrer Werkorientiertheit und Abgrenzung zur Unterhaltungskunst zumeist anti-avantgardistisch hatten doch die Avantgardebewegungen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts Vermischung, Unreinheit und Überschreitung zur Alltagskultur verkündet. Die Fünfziger-Jahre-Moderne aber verstand sich im Grunde nur als Avantgarde, weil sie auf reaktionären Widerstand stieß und als eine Elite zu wissen meinte, welchen Verlauf die künstlerische Geschichte weiterhin nehmen würde. Dies ist ein Textauszug! Mit freundlicher Genehmigung des Haymonverlages |
|
||