Über die Vereinsamung, die Klischees und die Mehrsprachigkeit

E-mail-Dialog von Dragana Dimitrijevic[1], Walter Grond, Martin Krusche[2] und  Wessam Sami[3]


Dimitrijevic   Ich bin wieder in Wien, zurück aus Serbien. In Beograd war es sehr schön - zu meiner Überraschung. Ich habe mich viel weniger fremd gefühlt als zuerst angenommen. Nach ein paar Stunden war ich richtig zu Hause. Gewohnt habe ich in einem wunderbaren Hotel mitten im Zentrum - im 6. Stock mit herrlichem Blick über ganz Beograd. Fast schon ein wenig kitschig. Die Stadt ist lebendig, bunt, windig, ab und zu nebelig, und eine wahnsinnig schlechte Luft. Ich war sehr viel mit meinen Cousinen unterwegs (sie studieren in Beograd), hab viel mit Studenten geredet und natürlich auch sehr viel geschlafen. Die ersten paar Tage hat mein Radio-Kollege für unseren Sender (Radio Wien international) und für FM 4 berichtet (über die Wahlen), und ich hab natürlich die ganzen Infos vorbereitet und übersetzt, war aber nicht on air - für FM4 ist mein Englisch nicht gut genug. Wie bekannt, gibt es in Serbien wenig Strom, und das macht die Leute doch ein wenig fertig. Sonst ist die Stimmung sehr, sehr optimistisch - die Leute sind noch immer voller Energie vom 5.Oktober (Revolution), noch immer gibt ihnen dieser Tag wahnsinnig viel Kraft.  An einem Abend bin ich mit meinen zwei Kleinen (meinen Cousinen) auf dem Weg in ein Café gewesen, und da das erste, das wir aufsuchten, voll war, das zweite auch, sind wir zu einem dritten gegangen - in diesem Stadtteil bzw. in dieser Strasse hat es keinen Strom gegeben. Ziemlich merkwürdig das Ganze - für mich. Für die, die dort leben, ist es Alltag. Nun – im Café angekommen - kein Strom, doch fast voll, so als wäre es ganz normal - es hat zwar keine warmen Getränke gegeben, aber aber sonst war alles ok. Es ist einfach ein seltsames Gefühl, in so einer großen Stadt zu sein, und es ist  dunkel..... Am 27. Dezember haben meine Kleinen Geburtstag gehabt (sie sind Zwillinge) und eine Party im Studentenheim gegeben. Ihren Freunden bin ich nicht fremd. Wir kennen uns schon vom letzten Jahr. Nur war mein Radio-Kollege auch mit - der zwar serbisch sehr gut versteht, aber nicht gut spricht. Aber egal - auf jeden Fall ist er einer aus dem Ausland. Er war natürlich die Attraktion des Abends. Da habe ich wiedermal die traurige Realität erkannt - daß diese Kids in ihrem Leben noch nie irgendwo anders waren als in Jugoslawien. Höchstens einmal in Griechenland auf Urlaub oder in Ungarn. Ihre ganze Welt ist einfach nur das kleine, arme, korrupte Land - na ja. Doch sie haben Energie - sind unbesiegbar, feiern bis in den Morgen und versäumen doch keine Vorlesung, bestehen jede Prüfung ... auf jeden Fall sind sie auf irgendeine Art und Weise auch beneidenswert. Also waren es lehrreiche Tage. Und ein wenig bin ich natürlich traurig - daß das alles so ist, wie es ist.

Krusche       Wofür alles ist Serbien zur Metapher geworden? Ich denke vor allem: Diese Brüche. Diese Unerbittlichkeit des Geschehens. Nun in diesem Kontrast: Ich bin wieder in Gleisdorf, zurück aus Pischelsdorf ... wo ich einen persönlichen Höhepunkt der zwei Jahrzehnte mit Dauer versehenen Larmoyanz heimischer Kulturschaffender erlebt habe. Noch immer biegen sich die Tische, sind die Öfen warm, aber ich hör sie nur klagen. Seit über zwanzig Jahren. Ich kann nicht einmal sagen worüber, weil mir davon längst die Ohren abgefallen sind. (Andere singen, die klagen...) Ich war eben mit dem unbändigen Joseph Schützenhöfer und mit Klaus Zeyringer auf einer kleinen Fahrt durch die hinterste Oststeiermark, um jene Plätze aufzusuchen, wo Ottokar Kernstock heute noch mit Statuen, Tafeln, Straßennamen geehrt wird. Dieser immer noch geschätzte Dichter, er war ein miserabler Autor, schrecklicher Stil, schrieb Dinge wie  Meint´s Gott mit einem besonders gut / In diesem Leben, dem herben, / Den läßt er als frisches junges Blut / Im Feld für die Freiheit sterben ,... Damit meinte er Serben, die von deutschen Buben umgehackt werden sollten. Der Priester Kernstock. Das ist der Patron jener   Volksschule Kernststockgasse, in die mein Sohn geht. Der Autor von Machwerken wie Steirische Holzer, holzt mir gut / Mit Büchsenkolben die Serbenbrut!
All das ist hier vor meiner Tür. Weitgehend unbeeinsprucht. Aber was ich eigentlich erzählen wollte: Wir fahren also gerade von Vorau nach Friedberg. Eine kleine Landstraße. Trübes Wetter. Dead End County. Und plötzlich seh ich, da steht links in einem Vorgarten der wuchtige Stahlrumpf einer Segelyacht. Nackt. Blankes Metall. Kein Mast. Zum Glück hat mein alter Schinder ABS, weil ich so heftig in die Bremsen getreten bin, daß wir sonst womöglich in Bedrängnis gekommen wären. Ich wollte mir das näher ansehen. Das Stahlmonster muß sich jemand in seiner Freizeit dort gebaut haben. Und ich zweifle, ob die Straße breit genug ist für das Schwerfahrzeug, das nötig wäre, um die Yacht ans Wasser zu bringen. Wie mag sich dieser Mensch an seinem entlegenen Heimatort fühlen, wo das Spektakulärste, was man zu sehen bekommt, übergroße Traktoren und Mähdrescher sind?

Sami      Was ist überhaupt Heimat? Ist es, wo man geboren ist, oder dort, wo man sich nicht fremd fühlt? Fremd fühlt man sich, wenn man mit den Menschen, die einen umgeben, nicht umgehen kann. Fremd fühle ich mich, wenn ich mit meinen einst intimen Freunden nicht mehr ein langes Gespräch führen kann. Dann muß ich feststellen, daß wir verschiedene Wege gegangen sind, und daß sich unsere Denkweisen währenddessen weit voneinander entfernt haben. Fremd bin ich, wenn sich meine Lebensvorstellungen nicht mit den Umständen decken, die mich umgeben.

Krusche      Diese Heimat-Dinge handeln vermutlich immer von beunruhigten Menschen. Von angefochtenen Menschen. Erschreckend, daß sich sogar staatliche Formationen jederzeit aufraffen können, die Unruhe ihrer Menschen zu übertönen, indem sie andere zum Abschuß frei geben. Ohne diesen Zusammenhang klingt das Wort Heimat für mich nicht. Das stört mich sehr. Wie könnte es wohl ohne diese Vorgeschichte klingen? (Ich weiß! Eine alberne Vorstellung.) 
Was ist überhaupt Heimat? Das Ausbleiben der Anfechtungen und der Unruhe? Vielleicht: Identität und Fraglosigkeit. Ihr kennt das doch? So lange mich niemand fragt, weiß ich genau, was es ist. Aber wenn ich es klären, ordnen soll, finde ich gerade noch das: Da sind grundlegende Bedrohungen, denen eine Idee von Heimat als  das Andere   gegenüberstehen mag. Mangel an Zuwendung. Hunger. Schmerz. Tod. Und die Angst vor diesen zutiefst kränkenden Anfechtungen. Der Rest sind Erzählungen. Erzählungen, die zu Herzen gehen, die der Angst und Unruhe Bilder und Worte geben. Nationalistische Diskurse ebenso wie die Gründungsmythen von Staaten. Blut und Boden-Geraune, sentimentale Lieder, Wahlplakate... Heimat ist offenbar die Erzählung von Heimat. Wie auch Lederhosen-Filme. Ebenso Literatur, die im Feuilleton standhält. All das.

Grond        Erst gestern redete im Radio wieder jemand über die Vereinsamung in der Computergeneration. Ein typisches Klischee unserer Gegenwart. Ich erinnere mich daran, daß Dragana nicht die der Heimat nachhängende Emigrantin sein will, sondern   Identitäten wie Slawin-Sein oder Fremd-Sein äußerst mißtrauisch gegenüber steht – Dragana würde, nehme ich an, nicht darüber nachdenken, wäre da nicht die Wiener Realität, die sie kaffeehaus-charmant darauf hinweist, daß sie doch eine Serbin, eine Fremde ist.
Wann fühlte ich mich selbst am einsamsten? Doch am meisten in meiner Kindheit in der Großfamilie. Ich begann mit vierzehn zu schreiben, weil ich der niederen Einsamkeit mittels einer hohen, dem Versinken in die Literatur, entfliehen wollte. Es handelt sich dabei um ein Perpetuieren eines Ausnahmezustands, das wird schließlich zur Sucht. Wenn ich Roman schreibe, und das tue ich täglich, ist das gewöhnlich stets abenteuerlich. Dieser Zustand ähnelt der Euphorie von Menschen in nachrevolutionären Zeiten, vermute ich. Ähnelt vielleicht den Gefühlen von Draganas Cousinen im heutigen Belgrad, einem kindlichen Gemütszustand.

Sami       Die Kids aus diesem armen, korrupten Land, schreibt Dragana ... Danach gehöre ich auch zu den armen Kids, die nirgendwo anders waren, als in ihrem Heimatland J. Höchstens einmal in Deutschland auf einem 30tägigen Sprachkurs. Diese Reise hat aber viel an meinem Leben geändert. Durch mein Studium (Germanistik) und vorher an der Schule (englische Schule) habe ich vom Ausland erfahren, einige der Literaturen der anderen Kultur gelesen, mir viele Filme angeschaut, wodurch ich mir ein Bild vom Fremden machen konnte. Aber auf dieser Reise bin ich dem Fremden zum ersten Mal leibhaftig begegnet. Meinerseits war es nicht weit von meinen Vorstellungen, aber was für Vorstellungen die anderen von mir bzw. meinem Land, unserer Kultur gehabt haben, hat all meine Vorstellungen übertroffen. Es war, als hätte ich mich verteidigen müssen. Viel versuchte ich an diesen Vorstellungen zu korregieren, mußte aber mir aber auch eingestehen, daß einiges daran stimmte. Und so bin ich kritischer nach Ägypten zurückgekommen. Und je mehr die Tage vergehen, je mehr ich lerne, kritischer werde, finde ich, daß sich viel an meinem Charakter und meiner Denkweise geändert hat. Und gerade wenn sich etwas in dem Menschen entwickelt, während alles Umgebende bleibt, wie es ist, fühlt man sich fremd bzw. einsam.

Grond     Irgendwann kommt das Erwachen, ich weiß nicht, ob für jeden einzelnen. Die Zeit vergißt nicht: die fehlende Gleichzeitigkeit von Geschichte und Biographie, die sie gerade bestimmt.  Die Erinnerung: an den Vater vielleicht gleichwie an die erste Liebesenttäuschung. Und über allem drohend: welches Leid die Tschetniks zufügten - im Fall der Serben, oder was die Nazis verbrachen - im Fall von uns Österreichern. Etwa zur selben Zeit, als ich mit dem Schreiben begann, wollte ich eine Kollektivschuld auf mich laden, um selbst rein zu werden. Für die Deutschsprachigen im Alter von Draganas Cousinen klingt das wohl absurd, und doch werden vielleicht einmal auch Draganas Cousinen so denken – aus dem selben Gefühl der Hilflosigkeit. Klar hat sich inzwischen  etwas verändert. Die Möglichkeiten, ihre Realität zu bestimmen, mögen im Vergleich zu früheren Zeiten für Draganas Cousinen zwar nicht gewachsen sein, die aber wohl, sich eine Realität auszusuchen. Ist es nicht das, was wir tun, wenn wir in virtuelle gleichwie in literarische Welten abtauchen?

Sami     Aber gerade diese Realität, die ich mir aussuche, entfernt mich von den anderen, die mich umgeben, z.B. von meiner Familie, solange sie nicht ein Teil dieser Realität sind. Vereinsamung in der Computergeneration ist – meiner Meinung nach - das Sich-Entfernen von der Realität, von der man abrückt, weil man sie nicht mitbestimmen kann. Man kann heutzutage über das Internet Freundschaften schließen, Gespräche führen, seine Arbeit durchführen, einkaufen (was in den Entwicklungsländern immer noch nicht der Fall ist). Man kann sich in diese eigene Welt zurückziehen, solange man die anderen nicht mehr braucht, oder mit ihnen diese Welt nicht teilen kann. 

Grond      Ich erwähnte das Lesen und Schreiben von Literatur als Flucht nach vorne, weil ich die Gegenüberstellung von Geisteswelt und technischer Welt für nicht geglückt halte. Ist nicht die Behauptung, wir hätten früher inniger die Welt erfahren und inniger miteinander verkehrt, ein neues Klischee, das eigentlich ein sehr altes ist? Menschen, die eine Kulturtechnik nicht beherrschen, verteufeln diese. Ist nicht alles, was wir in der traditionellen Welt vorfinden, ebenso standardisiert? Sind nicht die Sätze der Bildungswelt ebenso Klischees wie die Sätze der Medien? Was mich interessiert, ist die Frage, ob eine Art zu leben, genauso wie eine Art sich auszudrücken, eine Art, miteinander zu kommunizieren, mir etwas vom Gefühl der Zeit, in der ich lebe, vermittelt.
Ich besuchte in Kairo, draußen in Giza, in einer ärmlichen Gegend, einen Freund, bei dem ein Sufimeister zu Gast war. Im Gegensatz zu den Fundamentalisten stehen die Sufisten, eine mystische Glaubensrichtung des Islam, den technischen Errungenschaft heiter und positiv gegenüber. Er telefonierte ständig mit dem Handy, während er mit mir redete, interessierte sich für das Internet. In seiner Sicht hat der Muslim der Welt zugewandt zu leben – das sagt jemand, dessen Ordensbrüder Einsiedler, Ekstatiker in der Wüste sind. Das finde ich interessant. Denn abgesehen davon, dass die Rechtgläubigen den Mystikern sexuelle Zügellosigkeit vorwerfen (wie den Internetusern den Konsum von Pornographie), lässt sich an einem Sufimeister recht sinnig das Verhältnis von Nähe und Ferne zeigen (er geht in die Wüste, um Welten allein zu erfahren, und ist doch und gerade deswegen ein heiterer Zeitgenosse, der der Gesellschaft zugewandt lebt). Salopp formuliert: ist nicht das Internet die Wüste, in die wir gehen, um der Realität, die uns umgibt, mit einer gewissen Gelassenheit standzuhalten? Freilich, wenn wir beginnen, über unsere Realität zu sprechen – in Wien, in Kairo, in Beograd, in Gleisdorf – was bedeutet dann die Tatsache, daß wir uns über tausende Kilometer hinweg in einem virtuellen Raum näherzukommen versuchen? Wie gehen wir mit den Werten der anderen um, wenn sie unseren eigenen widersprechen? Oder vereinsamen wir tatsächlich, weil wir sozusagen gemischte Erfahrungen machen? Inwiefern nehmen wir die Vereinsamung bewußt auf uns, weil uns zum Beispiel eine Schule in der Kernstockgasse Ausdruck einer unerträglichen Realität ist? Usw.

Sami      Die Behauptung, wir hätten früher inniger die Welt erfahren und inniger miteinander verkehrt ist kein altes Klischee, sondern ein uraltes. Was meint man eigentlich hier mit der Welt und miteinander.

Grond      Im Grunde bezeichnet es stets das Verhältnis der Eliten und deren Definitionsgewalt in einer Kultur zu ihrer Gesellschaft ...

Sami      Ist es die Welt, die die Völker des Westens und des Ostens umfasst? Gab es früher die Möglichkeit, mit den anderen zu verkehren, wie es heute über das Internet möglich ist? Gab es die Möglichkeit, selber von den anderen etwas über sie zu erfahren, ohne daß der Blickwinkel standardisiert wird.

Grond    Vor dem Internet gab es das Fernsehen, zuvor die Touristen und zuvor die Bücher und noch zuvor die Berichte der Händler, die unsere Bilder von den Anderen gestalteten.

Sami       Wie hatte ich mir  das Bild eines Deutschen oder eines Russen anders vorstellen können, als es in den amerikanischen Filmen dargestellt wird? Und was für Klischeebilder gibt es heute über die Araber und Frauen im arabischen Raum? Der einzige Weg, von diesen Klischeebildern herauszubrechen, ist der Dialog, das Näherkommen, um zu erfahren. Das bietet sich leicht über das Internet und zu jeder Zeit.
Daß wir uns über das Internet näherzukommen versuchen, bedeutet, daß wir uns einen Raum schaffen, in dem wir uns ohne Vorurteile gegenüberstehen. Wir haben die Bereitschaft zuzuhören und zu verstehen. Wir sind uns bewußt, daß wir verschieden sind, aber wir akzeptieren und respektieren es, indem wir die Grenzen dieses Anderssein (ginge es um Kultur, Generationen, Werte oder Religion) überschreiten, um uns verständigen zu können.
Wir vereinsamen nicht, aber andere halten uns vielleicht für einsam, weil sich unsere Vorstellung vom Näherkommen von der ihren unterscheidet. Die möchten nicht akzeptieren, daß es anders sein kann.

Krusche       Gemeinschaften stützen sich nun mal auf Erzählungen, Mythen. Das scheint gleichermaßen gemeinschafts- wie identitätsstiftend zu sein. Ist das für eine Muslima ganz anders wie für uns? Ist Bosnien anders als Österreich? Was sieht die Bosniakin? Und da wir mit Medien befaßt sind – Bücher, das Radio, das Web –, was hat es bezüglich der Idee von Heimat also mit den Erzählungen auf sich?Die Vereinsamung der Computergeneration halte ich für eine Wanderlegende, die sich mühsam weiterschleppt. Gerade noch war sie die Legende von der schädlichen Wirkung der Comix, der Schundhefte, dann kamen TV und Video in Verruf. Immer mit dem gleichen Aviso: Diese Dinge würden einen einsam und verhaltensauffällig machen, würden der Intelligenz schaden.
Es ist doch eher so, daß vereinsamte Menschen die ihnen gerade greifbaren Medien nutzen, um ihren Alltag erträglicher zu machen. Egal was es ist. Das können die genannten Dinge sein, das kann auch ein Medium wie Haschisch oder Ectasy sein. Lektüre, Deprivation, Ekstase, die maximale Dröhnung, egal... Das sind doch meist aufgeschreckte Kulturpessimisten, die sich von aktuellen Veränderungsschüben überfordert fühlen, die dann Bücher verbrennen, Schallplatten zerbrechen, Videos zensieren, was auch immer. Ich versteh es ja. Aber es richtet so viel Schaden an. Und manchmal werden eben Menschen gleich mit verbrannt. Und hinterher will es niemand gewesen sein. Das ist auch Heimat. Serbien hat solche Erfahrungen gerade gemacht. Von uns rede ich da erst gar nicht. (Seht Ihr? Im vorigen Satz steht ”uns”, als wäre das ganz selbstverständlich.)
Der Islam, da weiß ich so wenig. Von klein auf habe ich schon Bilder gehabt, was die Heiden seien. Die Orientalen. Kinderfresser. Hostienschänder. Da überschneiden sich die Phantasmen mit dem, was dem serbischen Raum zugeschrieben wurde. Wo die Osmanen so lange geherrscht haben. Die uns ihre Renner und Brenner schickten. Höllenreiter. Das Ungarische wurde auch gleich noch großzügig dem Slawischen zugeschlagen. Alles Muselmanen. Da nehmen wir es nicht so genau. Das ist alles ein großes Durcheinander mit unseren Begriffen von Heimat. Und uns ist so sehr der Blick verstellt. Übrigens: In Auchwitz wurden jene Gefangenen Muselmanen genannt, denen man anzusehen meinte, daß sie die nächste Zeit nicht mehr überleben würden.

Sami        Osmanen, Harem, Fundamentalisten, das sind Bilder, die immer mit dem Islam verbunden werden. Fundamentalisten gibt es in allen Religionen, aber wenn es zum Islam kommt, da erscheint das Bild eines Terroristen. Das Bild eines Menschen, der eine westliche Botschaft sprengt, während er ALLAHU AKBAR ruft.
Und wenn es zu Frauen kommt, eröffnet sich die Welt des Orients, wie es in Tausendundeine Nacht dargestellt ist. Warum besonders diese Bilder? Denn es werden einfach keine andere Bilder gezeigt. Stereotypen, die durch verschiedene Medien verwurzelt werden. Aber haben die Muslimen ein anderes Bild den anderen angeboten? Weißt Du, wer dieses Bild heute zu ändern versucht? Es ist die heutige Computergeneration. Eine Generation, der bei uns vorgeworfen wird, daß sie sich von allen ethischen und religiösen Werten löst, keine Verantwortung übernehmen kann, kein Bewußtsein für unsere Probleme hat usw. Diese Generation greift zu den ihr verfügbaren Mitteln und versucht damit, den anderen ein neues Bild anzubieten, ihnen näherzukommen.

Grond     Auch wenn wir das Netz (gleich wie in der realen Welt das Flugzeug) dazu nützen, über tausende Kilometer hinweg miteinander zu kommunizieren, werden wir nicht auf Erzählungen verzichten können. Was indes verändert unsere Kommunikation an der Erzählung Orient, an der Erzählung Europa, und darin eingeschlossen an der Erzählung Serbien, wiederum darin eingeschlossen an der Erzählung Weltkrieg usw.?
Zunächst, denke ich, dass wir die Pluralität, die wir uns selbst zumessen, den anderen zugestehen lernen müssen. Pluralität Serbien, Pluralität Orient. Amerikaner gehen auch nicht davon aus, daß ihre Gesellschaft zuallererst über die Todesstrafe erklärt wird – ein ebenso grausames Recht wie die Tatsache der Beschneidung von Frauen in vielen islamischen Ländern, die wir gleichwohl nicht nur darauf reduzieren, sondern insgesamt über einen Kamm scheren, als gingen darin lauter bärtige Handabschneider um. Denn abgesehen davon, daß etwa in Ägypten die Beschneidung von Frauen unter Christen wie Moslems gleichermaßen üblich war/ ist, und abgesehen davon, daß diese Praxis aus zentralafrikanischen Kulturen kommt und viele islamische wie auch andere Kulturen überlagert hat, ist es doch gerade die Globalisierung, die die Frage der Grenzen des Unrechts wie der Freiheit so vehement stellen läßt: in der Geschichte ebenso wie heute, im Guten wie im Bösen. Geschlossene Gesellschaften sind nie so geschlossen, wie es ihre Türwächter behaupten. Wir haben also nicht Europa nach Ägypten zu tragen (im Fall von – Europa nach Serbien tragen, klingt es noch absurder), sondern von den Grenzen der Befreiung zu reden. In der Technikdiskussion taucht sie ständig auf, wenn auf der einen Seite euphorisch von der Befreiung des Körpers, und auf der anderen Seite apokalyptisch vom Untergang der Menschheit gesprochen wird. Was das Netz und damit die Bedingungen einer globalisierten Kommunikation betrifft, würde ich sagen, daß diese Grenzen immer weniger auf Grund von niedergeschriebenen Gesetzen gezogen werden, sondern als Resultat einer Praxis – einem liberalen Pragmatismus verpflichtet (wie weit kann ich gehen? Was ist für dich noch erträglich? Was ist für uns beide gut? Usw.), den ich sehr gutheiße.

Krusche        Da schreibst Du über Erinnerungs-Ensembles, Walter, dieses die Erinnerung: an den Vater vielleicht gleichwie an die erste Liebesenttäuschung. Und diese andere Dimension: über allem drohend: welches Leid die Tschetniks zufügten - im Fall der Serben, oder was die Nazis verbrachen, die also nun verknüpft erscheinen. Sehr problematisch! Da muß einer freilich verzweifeln, wenn er persönliches Leid (privates?) so mit diesen Dimensionen verbunden erlebt. Denn eigenes Leid spüren, erfahren zu können, und daraus zu lernen, daß andere auch leiden können, diese Art von Affirmation ist eine wichtige Voraussetzung, daß man Greueltaten ausschließt. Das ist irgendwie das Dilemma unserer Nazi-Väter, der Tschetniks, wessen auch immer, daß sie diese Erfahrung ausschlagen. Wenn ich meinen Mitmenschen als Mensch suspendiere, als Gegenmenschen oder Nichtmenschen deklariere, muß ich nicht mehr annehmen, daß er leiden kann wie ich. Dann ist es egal, daß und wie er leidet. Dann kann ich ihm alles antun, ohne mich mit Gewissen oder Mitgefühl herumschlagen zu müssen. Weil ich ja meine Leidenserfahrungen nicht mehr auch als sein Leidenspotential annehmen muß. Und genau das ist doch ein Grundmotiv des Rassismus und der Menschenverachtung.
Du wolltest eine Kollektivschuld auf mich laden, um selbst rein zu werden. Das ist so ein Malheur. Denn wenn ich mir dieses Gefühl erhalte, daß alle Menschen leiden können wie ich selbst, wenn ich das ernst nehme, werde ich ja nicht von jenen verunreinigt, die das ignoriert haben. Und die schmerzlichen Gefühle in diesem Zusammenhang wurzeln in dieser ganzen Heuchelei und Vertuschung, die wir uns in Österreich ein halbes Jahrhundert lang geleistet haben. Die Folgen von Schuld und Scham. Aber das löse ich eben so. Mein Vater hat mich geschlagen. Ich habe meinen Sohn noch nie geschlagen. Wir regeln Konflikte anders. Um solche Konsequenzen geht es. Die Kette der Verachtung und Gewalttätigkeit ganz persönlich durchbrechen.
Ich verkürze: Das Fremde entsteht also im Ausschlagen von Begegnung und im Verweigern der Annahme, daß die Anderen  in manchen grundlegenden Dingen erleben und empfinden könnten wie ich. Diese prinzipielle Annahme einer Gleichheit der Menschen ist ja sogar in manchen uralten Entstehungsmythen formuliert. Und es scheint so zu sein, daß die Aussicht auf persönliche Vorteile einen verleitet, diese Annahme zu verwerfen.
Es ist in diesem Kontext einfach grotesk, wie nun das christliche Abendland, das lateinische Europa, im völligen Widerspruch zu einigen Grundsätzen seines großen Mythos der restlichen Welt schon begegnet ist. Denn die christliche Nächstenliebe und Jesu Positionen gegenüber Obrigkeiten, Devianten etc. sind da mehr als deutliche Vorgaben. Wenn da die Heiden nicht wären... Und das sind dann auch immer die Anderen.
Du schreibst an anderer Stelle, das Lesen und Schreiben von Literatur sei eine Flucht nach vorne, weil ich die Gegenüberstellung von Geisteswelt und technischer Welt für nicht geglückt halte.
Eine Metapher. Ich würde nicht von Flucht sprechen wollen, eher von Standhalten. Solchen Deutungsunternehmen einer merkwürdigen Konquista standhalten, etwas gegenüberstellen. Diese Polarisierungen sind ja Attacken. Die Welt in eine duale Welt, eine bipolare aufzudröseln zu wollen, das ist eine Attacke. Das sind Übergriffe, die auf schwierige Fragen simple Antworten zu geben versuchen. Das ist das Geschäft des Populismus und vermutlich ein sehr verläßlicher Hinweis auf Machtansprüche. Der Kulturpessimist, wie ich ihn schon erwähnt habe, meint ja Hegemonie... wenn er Comichefte, Schallplatten, Videos, Computerspiele geächtet sehen will. Wenn er Heiden bekehren will. Wenn er sich zum Unternehmen Volksbildung aufschwingt. Da haben wir dann gleich das, was Klaus Zeyringer die sakralen Diskurse nennt. Wir handeln mit Glaubensgrundsätzen. Debatte verboten. Diese Art von Kulturwächtern haben bei uns Tradition. Solche Kulturpessimisten, deren Diskurse so laut von den besseren Zeiten handeln, die immer früher gewesen sein sollen, meine ja nur ihre Kultur, die sie – auf Kosten anderer – durchsetzen wollen. Wir haben uns am Beispiel des Tausendjährigen Reiches schon anschauen können, was da läuft und wie es läuft, wenn solche Leute dürfen wie sie wollen. Naja, das ist jetzt auch etwas verkürzt dargestellt.
Wenn die Kulturwächter laut werden, wenn das Hehre und das Triviale gegeneinander gestellt werden, erwähne ich ganz gerne, daß ja nicht Goethes Werke zu jener Literarität auf Massenbasis geführt haben, die heute Voraussetzung unserer Vorstellung von Demokratie ist. Es waren nun mal die Groschenhefte, die trivialen Romane. Requisiten der Alltagskultur.
Man kann freilich auch die Menschenwürde hochhalten, ohne alphabetisiert zu sein. Klingt komisch, muß aber vielleicht explizit erwähnt werden, weil unsere Kultur gerne annehmen läßt, wer nicht lesen und schreiben könne, sei sowieso kein Mensch. Das geht innerkultuell weiter: Wer Bach und Beethoven nicht schätzt, ist sowieso kein Mensch. Wer Handke nicht kennt, ist sowieso kein Mensch. Etc. etc.
So könnte man vermuten: Affirmation im emotionalen Bereich, kognitive Fähigkeiten, wie sie eben auch von Literarität gefördert werden, sind günstige Voraussetzungen, um das Gefühl von Fremdheit am Fremden zu überwinden. Aber wenn ich das so schreibe, fühle ich mich schon im Reich der Plattitüden. Zugleich sehen wir, wie wenig verbreitet solche Annahmen sind. Österreich zeigt xenophobe Seiten wieder so deutlich, daß es mich beunruhigt.
Du schreibst: “Die Zeit vergißt nicht. ”.Sagen wir doch nicht die Zeit, denn Zeit ist bloß das, was die Uhr mißt. Wir selbst, was in uns eingeschrieben ist, was uns so und so handeln läßt, verkörpern doch solches Gedächtnis... im Sinn des Wortes.
Was mir, als hilfloses Kind, an Expansion des Mächtigeren und an konkreter Gewalttätigkeit zugemutet wurde, das erinnert mein Herz ebenso wie mein Fleisch. Kurios. Ich kenn das so. Mein Körper erinnert erlebte Verletzungen. Wir selbst sind die wandelnde Erinnerung.

Grond        Wenn Dich auch meine  schlechten Metaphern wie die Zeit unglücklich stimmen, ist es doch gerade das historische Bewusstsein, daß das Durcheinander von Privatem und Öffentlichen in der Waage hält und erst einen Diskurs möglich macht. Abstraktionen sind der Schlüssel zum Dialog schlechtin, und eine solche Abstraktion bedeutet ja auch das Kommunizieren über das Internet. Überspitzt gesagt: bist Du Jesus Christus persönlich, daß Du mir abverlangst, an Deiner persönlichen Leidensfähigkeit teilzuhaben? Dein Plädoyer für die Klugheit der Analphabeten in Ehre – die Frage ist doch, wie wir gerade via avancierter Kulturtechniken aus uns herausschlüpfen und verschiedene Rollen annehmen können (oder bist Du nur einer?), um aus größerer Distanz etwas über uns und unsere Umwelt zu erfahren. Ich zählte einige kulturelle Klischees aus meiner Sozialisation als Autor auf, die mich inzwischen sehr mißtrauisch stimmen und denen ich doch weiterhin erliege – ich erzählte sie, um sie einigen Befürchtungen der Geisteswelt in bezug auf die technische Kommunikation entgegenzuhalten. Das läßt sich endlos weiterzerpflügen. Klar. An Draganas Geschichte finde ich die ihr fehlende Selbstgewißheit interessant – sie spricht über ihre Rollenwechsel, die sie so gelassen wie möglich bei all den Hin- und Herbewegungen zwischen den Welten Wiens und Beograds vollzieht. Nimm mich als kalten Rationalisten, den ich spiele. Die Rollen retten uns, behaupte ich. Gerade weil wir nicht ans Eingemachte gehen, können wir kommunizieren – gerade das, behaupte ich, ist der Reiz des Internets, gerade das beschreibt Wessam als das moralische Sprechen, ohne zu moralisieren, das auch die jungen Leute in Kairo nächtlings in die Internetwelten gehen läßt. Und gerade der Dialog der Kulturen erfordert einen hohen Grad an Abstraktion – oder willst Du mit dem Eingemachten beginnen, das Dich betroffen macht? Geschichten, die persönlich sind, sind nicht Literatur. Geschichten, die persönlich sind, eignen sich nicht zum Kommunizieren. Das Persönliche wird in ihnen verwandelt, erreicht einen Grad von Abstraktion, nenn ihn Heimatlosigkeit, der die Herrschaft des einen über den anderen verringert. Dieser Prozess der Erkaltung ist einer zur größeren Freiheit.

Sami        An einer Stelle spricht Walter von den Grenzen der Befreiung innerhalb einer globalisierten Kommunikation. Wenn ich an die Befreiung oder Freiheit denke, taucht für mich die Frage auf: kann diese Freiheit oder Befreiung auch eine Gefahr sein? Ich meine für die Leute, deren Vorstellung von Freiheit und Befreiung anders ist. Wie wäre es, wenn einer entdeckt, daß er nicht frei ist? Würde er sein Leben weiter genießen können bzw. ertragen? Soll man in diesem Fall um seine Freiheit kämpfen, auch wenn das den traditionellen Ideen seiner Umgebung widerspricht? Wie viel Mut braucht man, um zu widersprechen? Und wie weit ist man bereit, die Folgen zu tragen?
Habt ihr mal das Gefühl gehabt, Ideen, Gefühle, Einwände zu haben, ohne diese herausbringen zu können, wegen Angst vor Ablehnung? Ich meine das Ausgestoßensein von der eigenen Gesellschaft, weil man vielem an dieser Gesellschaft widerspricht. Wohin soll man denn gehören, wenn man wie ausgestoßen lebt? Spreche ich hier wieder von der Einsamkeit und vom Sich-fremd-Fühlen?
Da zeigt sich die Bedeutung des Rollenspiel oder Rollenwechsels, das/den du erwähnst, Walter: wir können verschiedene Rollen in dieser Welt annehmen, um mit unserer Realität und den Mitmenschen umgehen zu können. Ist es nicht auch so, wenn wir miteinander kommunizieren? Du sprichst mit mir auf eine Weise, indem Du im Kopf hast, daß ich aus einer verschiedenen Kultur komme, sprichst mit Martin auf eine andere Weise. Auch wenn es unter Einheimischen ist, gehst du mit verschiedenen Mentalitäten und Persönlichkeiten um. Manchmal bist du der kalte Rationalist, manchmal der Autor, der Vater, der einfache Mensch, der seine Schwächen und persönliche Sorgen hat. Wir selber tragen in uns verschiedene Identitäten. Wir sind verschieden, und wir sollen davon ausgehen, daß wir verschieden sind, um nicht zu vereinsamen. Aber inwieweit wir kommunizieren, miteinander sprechen können, hängt davon ab, wie weit ich gehen kann. Was für dich (und mich) noch erträglich ist? Was für uns beide gut ist, wie du sagst.
Verlangt unsere Zeit, die Zeit der offenen Grenzen, eine Menge Flexibilität? Aber wer hat nachzugeben? Die Schwächeren? Und wer ist der Schwache im Sinne unserer Zeit? Soll ich nun im Sinne der geistigen Welt oder der materiellen sprechen? Und können wir die beiden Welten überhaupt voneinander trennen? Ich werde nicht von der Politik oder von den materiellen Interessen, die die Welt dirigieren, sprechen. Da kenne ich mich nicht gut aus. Aber als ich mal in Deutschland mit Fragen wie: warum trinkt ihr keinen Alkohol? Warum trägt deine Freundin (eine Freundin, die mit mir in Deutschland war) ein Kopftuch? Warum dürft ihr keine Beziehungen vor der Heirat haben? dachte ich und denke immer noch, warum akzeptiere ich, daß sie (ich meine die Leute, die diese Fragen stellten) Alkohol trinken, Lebenspartner haben, daß sie fast nackt gehen dürfen, und die akzeptieren nicht, daß es auch anders sein kann. Ist es, wie Martin schreibt, die Aussicht auf persönliche Vorteile, die einen dazu verleitet, diese Annahme zu verwerfen? Ist es die Überzeugung, daß kultiviert und zivilisiert zu sein, bedeutet, aus der Ersten Welt zu stammen? Einer hat mir mal gesagt, wir seien also allen Genüssen des Lebens beraubt, ein anderer, ich sei Opfer meiner Erziehung.
Ob ich ein Kopftuch trage oder nackt gehe, ob ich alphabetisiert oder analphabetisierst bin, Musik von Bach und Beethoven schätze oder nicht, ändert nichts an der Tatsache, daß ich ein Mensch bin, klar, Martin. Aber, in wieweit nehme ich das an?
Ich möchte nicht, wie Walter sagt, ans Eingemachte gehen, sondern darauf aufbauen. Daß wir ein lebendiges Gedächtnis erhalten, soll nicht heißen, daß wir uns mit Fehlern oder negativen Erlebnissen der Vergangenheit quälen, sondern davon lernen, das es weh tut, damit wir es möglichst verhüten.

Krusche         Wessam, Du hast dem Web zugeschrieben: Der einzige Weg, von diesen Klischeebildern herauszubrechen, ist der Dialog, das Näherkommen, um zu erfahren. Das bietet sich leicht über das Internet und zu jeder Zeit. Also geht es um Kommunikation, um den Anlaß und den Raum dafür. Ich denke, früher leisteten sowas Reisende mit ihren Berichten und dem, was diesen Berichten folgte. Zum Beispiel Vortragsreisen. Aber eben auch mit der Möglichkeit, die reale Begegnung erneut umzudeuten und Vorurteile zu bedienen.
Die Frage nach Intentionen und Kontext bleibt unverzichtbar. Das Web kann viel leisten, um Klischees aufzubrechen. Kann. Muß nicht. Inhaltlich stehen wir bei Bedingungen, wie sie vor dem World Wide Web auch schon bestanden. Ich muß etwas erfahren wollen, das ich vorher nicht wußte. Oder mir genügt das nun Vorgefundene, um meine Vorurteile zu bekräftigen.
Neu ist der radikal veränderte Kommunikationsraum, der vielleicht auch das Zeug zum neuen Handlungsraum hat. Weltweit. So genau wissen wir das aber noch nicht. Diese Marke weltweit ist so anziehend. Und irreführend. Kriterium für unsere Telepräsenzen bleiben Fragen wie: Was kann ich rezipieren? Worauf kann ich reagieren? Also wie verhalten sich Kognition und Handlungsmöglichkeiten zueinander?
Daß wir uns einen Raum schaffen, in dem wir uns ohne Vorurteile gegenüberstehen, schreibt Wessam. Da treffen wir uns also. Das war einst ein geistiger Raum, der medial zum Beispiel über Briefe generiert wurde. Wir haben die Bereitschaft zuzuhören und zu verstehen, war ja schon seinerzeit, in dieser Low Tech-Ära die grundlegende Voraussetzung, mit diesem Raum was anfangen zu können.
Durch das Web haben wir heute ein ganz andere technische Ausstattung dieses Möglichkeits- und Kommunikationsraumes. Und er ist nicht mehr so virtuell, wie der Raum der Briefwelt. Weil unsere neuen Simulationsmaschinen uns jetzt schon eine Quasi-Realität anbieten, die längst was anderes ist als das Sinnessurrogat aus Rechenmaschinen.
Ich vermute, daß wir auf dem Weg sind, die Quasi-Realität aus Simulationsmaschinen in unseren menschlichen Realitätskanon aufzunehmen. Wenn das weiter fortschreitet, wird sich unsere aller Umgang damit schon wieder radikal geändert haben. Während wir augenblicklich noch starke Polarisierungen haben, in denen sich Leute hinreißen lassen, jemanden wie mich als Computerfreak zu verstehen. So als wäre jemand, der eine Schreibmaschine benutzt, ein Schreibmaschinenfreak ...
Du schriebst, Wessam: Fundamentalisten gibt es in allen Religionen, aber wenn es zum Islam kommt, da erscheint das Bild eines Terroristen. Das Bild eines Menschen, der eine Botschaft sprengt,... Ja, das ist ein gängiges Bild. Aber auch bloß eine zeitgemäße Variante dessen, wie in Gruppierungen das Andere gezeichnet und instrumentalisiert wird, um sich selbst darzustellen.
Da waren wir nie zimperlich. Ob Juden oder Araber. Selbst jene, die man als unsere eigenen Leute bezeichnet findet, hat’s im Bedarfsfall absolut gnadenlos getroffen. Wenn man schaut, wie brutal in Österreich die Gegenreformation durchgezogen wurde, wie man die Protestanten weggeschafft hat, wie damals jener Typus des klerikal orientierten, obrigkeitshörigen, also durchaus fundamentalistischen Katholiken entworfen wurde, der bis heute auffindbar ist, denke ich mir: Gute Nacht! Die Jungs haben lange nicht mehr in der Bibel nachgelesen.
Das sind Diskrepanzen, die als privates Problem keine so hohen Wellen schlagen. Wenn aber amtsführende Würdenträger sowas zu verantworten haben, indem sie ihren Machterhalt dermaßen in Widerspruch zu den eigenen Doktrinen stellen, wonach schließlich kein Wort über das von Jesus gestellt sein sollte, kriegt man, so glaube ich, die Kurve nur mehr über eine extreme Dämonisierung der Anderen. Sonst klappt das mit er Legitimation gar nicht.
Wir stellen uns sehr gerne vor, daß er Islam eine radikale und radikal menschenverachtende Religion sei, die in arabischen Staaten das Staatswesen infiltriert habe. Ich kommentiere diese abschätzige Annahme gar nicht erst. Aber ich empfehle gerne die wenigstens sporadische Lektüre der Bibel. Da staunt man dann, in welch hohem Maße Bilder und Ansichten, die heute in unserem Alltag geradezu allgegenwärtig sind, diesen Texten sinngemäß und wörtlich eingeschrieben sind. So viel zur heimischen Lage.
Walter schreibt: Geschlossene Gesellschaften sind nie so geschlossen, wie es ihre Türwächter behaupten. Bingo! Das Deutungsgeschäft kann also von den alten Eliten nicht mehr als Monopol gehalten werden. Und was ich noch interessant finde: Wie schon beim Thema Volksliterarität und Groschenhefte, darf man auch hier feststellen, daß es nicht die bevorzugten Medien der Bildungseliten sind, über die solche Veränderungsschübe losgetreten werden.
Ist das Web etwa der aktuelle Ort von Wiener Philharmonikern, hoher Literatur und hehrer Malerei? Ist es der primäre Ort feiner Künste und edler Diskurse? Nein. Es ist der primäre Ort von Datenschrott und Orientierungsproblemen, von MP3 und Geschwätz in ungezählten Chatrooms. Es ist ein verlockender Ort für Pornografie-Junkies und Kinderschänder, für Rassisten und nationale Eiferern etc. etc.
In dieser Nachbarschaft, also in teils ziemlich dreckiger Gesellschaft, loten wir aus, was und wozu dieser neue Ort und neue Raum taugt. Das finde ich recht bemerkenswert. Ein Faktum, das zentralistische Ansätze nicht grade untermauert.

Grond         Ich habe gerade eine Zeitung vor mir liegen, in der über Repressionen gegen Intellektuelle in Ägypten berichtet wird. Die Regierung mache sich die Angst vor den Fundamentalisten (die längst nur mehr eine marginale Rolle spielten) zunutze und gegen alle Versuche eines liberalen Diskurses mobil. Wenn man bedenkt, daß es gerade  Österreich (wo gerade eine Partei mit revanchistischen Elementen an der Regierung ist), das den ersten Weltkrieg mit Verschwörungstheorien gegen die Serben einleitete, und die Serben wiederum in den letzten Jahren mit Berufung, das Abendland zu retten, gegen die muslimischen Bosniaken mobil machten, schließt sich ein Kreis. Es hat freilich etwas zu bedeuten, daß Wessam von sich sagt, von Politik verstehe sie nichts, während Martin sehr vehement die Verkommenheit der österreichischen Politik kritisiert. Ich sprach von den Grenzen der Befreiung, die wir zu bedenken haben, wenn wir einen Dialog über die Grenzen von Kulturen hinweg aufnehmen. Bedeutet das nicht vor allem, dass wir von einer im urbanen Salon gepflegten Selbstgerechtigkeit abrücken  – der im Westen gleichwie im Orient  intellektueller Standard  ist? Es ist eben nicht davon auszugehen,  Wessam müsse ein politisches Bekenntnis ablegen, um ernsthaft  diskutieren zu können. Der kulturkritische Reflex ist  etwas, was  der global  vernetzten Kommunikation im Internet nicht entspricht. Wessams Schweigen ist keineswegs Anlaß, in ihr eine Fundamentalistin, eine Symphatisantin patriachaler Gewalt usw. zu vermuten.  Das Netz beläßt das Fremde viel eher, als daß es das Fremde kolonisiert – vielleicht flüchten deswegen allerorts Menschen nächtlings ins Dokuversum anstatt die korrekten Ich-Diskurse des urbanen Salons via bürgerliches Feuilettion zu studieren. Von daher ist mir die Trash-Metapher fürs Netz ganz sympathisch. Wir akzeptieren die Gegenwart als ein exzessives Nebeneinander von Lebensentwürfen, Rollen, Maskierungen – und vergessen darüber keineswegs, daß die große Erzählung, der unsere Existenzen prägt, der globale Kapitalismus ist. An vielen seiner Wegkreuzungen mit unseren eigenen Lebensentwürfen, Rollen, Maskierungen machen wir halt und fragen uns, ob es nicht andere Lebensentwürfe, Rollen, Maskierungen gibt, die wir fälschlich unter den Tisch fallen ließen. Pragmatischer Humanismus, kulturelle Mehrsprachigkeit. Und Dragana, wie geht ihre Erzählung weiter, zurück in Wien – da sie die reale Reise mit der unseren am Computer vertauscht hat? Oder ist sie weitergereist?

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Grond  Ich hörte von Dragana zuletzt vor drei Wochen, mailte ihr immer wieder, bekam keine Antwort. Sie war inzwischen in Istanbul, für eine Radiosendung, ich hörte ihre Stimme auf Radio Donaudialog, sie ist also wieder zurück in Wien. Ihr Schweigen im e-mail-Dialog, das Schweigen der Realität? Serbien, das Nachkriegsland, das in keinen Dialog der Kulturen passen will?

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Grond       Das E-Mailen stellt nicht nur Zeit und Ort auf den Kopf, sondern stellt einen Umgang mit Sprache zwischen der geschriebenen und der gesprochenen dar. Das hat Konsequenzen. Vor 15 Jahren stellte ich mit Lucas Cejpek einen Sammelband mit Textdialogen zusammen, unter dem Titel: Platon ade. U.a. machte damals Roger Willemsen mit, ehe er ins Fernsehen entschwand. Textdialoge definierte eine stark selbstreferentielle Literatur, die auf das Bewusstsein ihrer medialen Verfaßtheit mit   Hermetik reagierte. Hingegen bedeutet unser e-mail-Dialog einen noch-nicht-   und beinahe-schon-Textdialog, will den Zwischenraum der Kommunikation offen legen, also ein deutliches Platon ahoi!

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Grond           Wir sollten Draganas Schweigen zum Anlaß nehmen, über eine Besonderheit der Kommunikation über elektronische Post nachzudenken: die Leichtigkeit des Verschwindens, wohl ähnlich wie es Briefe ermöglichten, und es das Telefon schwierig machte. Das Internet ist insofern ein diskretes Medium, als daß es sich dem Terror des öffentlichen Ortes (dem Dorfplatz der geschlossenen Gesellschaften) entzieht und uns widerstandslos kommen und gehen läßt. Ist nicht darin – ebenso wie im Umstand, daß es weltweit ist, also Ort und Zeit auf den Kopf stellt – mitbegründet, was ich die kulturelle Mehrsprachigkeit nennen möchte? Ein Liberalismus der Individuen, die miteinander kommunizieren und dem Anderen seine Andersartigkeit zugestehen, eben weil sie selbst die Leichtigkeit des Verschwindens in Anspruch nehmen können?

Sami       Ich stimme Dir völlig zu. Ich glaube, es ist auch die Anonymität, die mit diesem Medium verbunden ist, die dem Menschen ermöglicht, sich frei auszudrücken, ohne Angst oder Sorgen. Ich glaube, es fällt einem manchmal schwer, etwas zum Ausdruck zu bringen, nicht wegen der zu äußernden Meinungen oder Gefühle, als vielmehr wegen der Ungewißheit über die Reaktion der Anderen. Die Anonymität des Internets bietet einem einen Wandschirm, hinter dem man dem Anderen seine Andersartigkeit zugesteht, oder irgend etwas ganz offen sagt, was sich einer in der Öffentlichkeit nicht traut.
Als ich mal erwähnte, daß das Ausbrechen aus den Klischees durch den Dialog über das Internet möglich sein kann, meinte ich damit, daß die Vermittlung nicht mehr einer bestimmten Elite vorbehalten ist. Ich kann als Individuum, ein anderes Bild vermitteln, direkt über mich selbst berichten, auch wenn ich kein Intellektueller bin.  Ich habe jetzt die Möglichkeit, den anderen allein zu erreichen. Das Problem der Diskurse der urbanen Salons ist es, daß sie auf bestimmte Menschen beschränkt sind. Diese Menschen vertreten aber nicht alle Aspekte der Sache. Du hast die Repressionen gegen Intellektuelle in Ägypten erwähnt. Ich habe wie Du davon gelesen. Viele Intellektuelle haben bei uns mehrere Artikel darüber geschrieben, einige waren für, andere gegen die Beschlagnahmung der Romanen. Aber keiner hat erwähnt, warum. Jeder geht davon aus, daß es schon bekannt, worum es sich in diesen Romanen handelt. Aber wem ist es bekannt? Und wen sprechen diese Leute an? Sie sprechen bestimmt einen geschlossenen Kreis an, auf den solche intellektuellen Fragen beschränkt sind.   Fragen, denen wir immer noch nicht gewachsen sind! Es ist die Vielfalt, die das Internet bietet, die ich interessant finde, die kulturelle Mehrsprachigkeit. Solange   man die Möglichkeit hat, sich grenzenlos im Rahmen einer kulturellen Befreiung zu äußern, besteht die Möglichkeit, daß ein Dialog aufgenommen wird, daß sich mehrere Kulturen entfalten können.

Grond       Ich glaube, es ging um Romane, in denen die geschilderte Sexualität inkriminiert wurde. In Europa wurde vor allem über die gesellschaftliche Krise in Ägypten geschrieben, die sich in diesem Verbot ausdrücke, da doch alle drei Romane vom selben Ministerium aus dem Verkehr gezogen wurden, das die Bücher zuerst druckte und lancierte. Angeblich zirkulieren die Romane nun in Kopien in Kairos Intellektuellenmilieu. Erst vor einem Jahr wurde übrigens ein Buch von Birgit Kempker, einer in  der Schweiz lebenden Autorin, in Deutschland aus dem Verkehr gezogen – und bei uns spricht man immer weniger von einer gesellschaftlichen Krise, die sich in solchen Fällen manifestiert, obgleich ich mir nicht so sicher bin, ob es nicht in Europa auch gefährlich antidemokratische Tendenzen gibt. Du triffst den wesentlichen Punkt: über das Internet können wir als Einzelne gegenseitig leisten, was uns die Medien offenbar immer mehr vorenthalten: den Dialog als  Mittel gegen die Vereinfachung.

Krusche   Ich hab offenbar den Eindruck erweckt, ich würde Analphabeten besondere Klugheit zuschreiben. Das ist ein Mißverständnis. Ich hab bloß so meine Probleme mit den Rittern der Schriftkultur, die sich manchmal zu einer eurozentrischen Conquista zusammenrotten und alles niederreiten, was in ihrem Kanon nicht vorkommt. Solche Herrschaften holpern seit Jahrhunderten durch unsere Geschichtsschreibung. Ziemlich unbeeindruckt von anderen Realitäten als den ihren. Ich kann sie auch im aktuellen Kulturbetrieb immer wieder finden, wo sie sich als tonangebende Rülpel gebärden.Eine durch und durch triviale Mediensituation schafft ganz neue Bedingungen, in denen die Wohltaten dieser ergrauten Conquista absolut keine Rolle spielen. Das alles geschieht ohne aufklärerische Attitüde. Ohne erklärte Wertschätzung für unsere Vorstellungen von Demokratie. Vor allem aber ganz ohne Verwendung für solches Türhüter-Personal. Das ist doch scharf.
Was in dem Zusammenhang die Analphabeten betreffen mag, interessiert mich vor allem dieser “sokratische Moment”. Was verlieren wir, wenn wir so neue Ebenen anlaufen? Was können wir gewinnen und was soll vom Alten mitgenommen werden? Das waren einst Wege von der oralen zur Kultur zu einer, die sich auf alphanumerische Codes stützt. Nun dieser Umbruch zur Stützung auf den Binärcode. Als Folge eines Technologieschubs, der radikal neue, vernetzte Systeme schafft, die zu begreifen und zu kritisieren Günter Anders schon vor Jahrzehnten sehr anregend begonnen hat. Im Sinne dieses Problems, daß wir in der Lage seien, Systeme und Faktenlagen herzustellen, die unser Begriffsvermögen bei weitem überstiegen.
Ich hab eben einen sehr interessanten Informationswissenschaftler kennen gelernt. Wolf Rauch meint, dieser Übergang von der oralen zur Schriftkultur, wie er vor rund 2500 Jahren geschehen sei, habe die Gesellschaft damals aus den Angeln gehoben. Das würde nun, im neuen Umbruch wieder geschehen. Rauch weist drauf hin, daß Sokrates´ Kritik an diesem Umbruch im Phaidros sehr aufschlußreich nachzulesen sei. Sokrates habe mit seiner Kritik an der Verschriftlichung recht behalten. Aber es gehe eben auch drum, die neuen Entwicklungen aktiv mitzugestalten, statt sich bloß davon überrollen zu lassen. Rauch weiß natürlich, daß diese aktive Rolle sehr allerhand voraussetzt und daß es bei weitem nicht allen Menschen die betroffen sind auch offensteht, so eine Rolle anzunehmen. Er sagte: Wer Veränderungen als Bedrohung erlebt, hat Grund sich zu fürchten.
Von Leuten wie uns kann man sagen, daß wir mit den neuen Wegen und Problemlagen schon passabel befaßt sind. Welchen Blickwinkel finden wir auf die in diesem neuen Medienkontext noch nicht Alphabetisierten? Was haben wir mit denen zu schaffen, die draußen bleiben? Das sind doch relevante Themen. Du, Wessam, bringst das an einem anderen Beispiel zur Sprache: “Wohin soll man denn gehören, wenn man wie ausgestoßen lebt?” Das ist ja eine Frage, die von denen mit Vorsprung gerne abgetan wird. Auch Deine folgende paßt in meinen Themenaspekt herüber: “Aber wer hat nachzugeben? Die Schwächeren? Und wer ist der Schwache im Sinne unserer Zeit?” Bingo!
Damit mußten sich die Conquistadores, die ich vorhin erwähnt habe, nicht herumschlagen. Da komme ich jetzt von meinem moralischen Ballast nicht frei und krieg auch keine elegante Figur hin. So. Was mach ich jetzt mit meiner aufklärerischen Attitüde, die ich nicht aufwärmen wollte? Uff! Wir dürfen schon mal aufhören, diese Kontinuität von Kant herauf immer wieder herzubeten. Also: Wir wurden von Kant & Co. beeinflußt. Gut. Abgehakt. An deine Position denkend, Wessam, müßte man nun vielleicht mit großem Nachdruck fragen: Was bedeuten für uns eigentlich jene, die keinen Einfluß üben durften, die ungehört blieben? Ich denke nämlich, daß “das Fremde” eine Konstruktion ist, mit der sich gut davon ablenken läßt, wie Definitionsmacht geregelt wird. Welchen Einfluß erlebt unsere Kultur und Gesellschaft durch all die Türhüter und das, was wir nicht gehört, nicht erfahren haben? Demnach interessiert mich brennend: Liegen im Web neue Möglichkeiten, in diesem vermutlich massivsten Umbruch (seit Platon Sokrates´ Dialoge aufzuschrieben begann), Ansätze für andere Verfahrensweisen und Gemeinschaftsformen zu finden? Oder steigen da bloß noch rigorosere, effizientere Deutungseliten in die Sättel?
Was Du, Walter, erwähnt hast, verschiedene Rollen anzunehmen, fehlende Selbstgewißheit, Abstraktionsneigung... all diese Bedingungen und Anteile mediengestützen Miteinanders sind uns zum Glück nicht neu. Als Lesende und Autoren wissen wir, daß Literatur das seit jeher fordert und leistet. Du kennst doch die beliebte Frage an den Autor: Haben sie das selbst erlebt, oder ist das Fiktion? Und wir wissen: Für den Akt des Schreibens ist das ebenso wurscht wie für den Akt des Lesens. Für die Lesenden bleibt der Text die Quelle ihrer diesbezüglichen Erfahrungen und Erlebnisse. Eine kognitive Leistung. Und ein Simulationsakt, der nicht in ernster Konkurrenz mit dem “realen” Handeln und Interagieren steht. Jenseits dessen, was geschieht, wenn unser Geist Eindrücke deutet, ist ja nicht klärbar, ob wir nun in platonischen Höhlen hocken oder nicht. Wenn ich hinzunehme, welche Nachrichten mich von der Neurologie seit etlichen Jahren erreichen, verstärkt mir das diesen Eindruck noch.
Aus der Erfahrung mit Lektüre wissen wir etwas, das wir sehr gut in die neue Mediensituation mitnehmen können. Es wäre töricht, die eine Erlebnisform gegen die andere auszuspielen: Was die Rezeption von Erzählungen sei und was die Folge von realem Handeln.
Die gute Nachricht wäre demnach: Selbst die völlige Veränderung unserer informationellen Umwelt macht bisherige Erfahrungen, was soziale Kompetenzen seien, nicht überflüssig. Online oder in real life müssen wir gleichermaßen jedes Mal neu entscheiden, welche Rolle wir an jemandem vermuten und wie wir demgemäß sein oder ihr Handeln deuten.
Was immer also das Web mit sich bringt, für den Anfang nützen uns ganz vertraute Qualitäten bei der Neuorientierung sehr gut. Oder so gesagt: Erfahrung und Kritikvermögen aus dem Umgang mit bisher vertrauten Medien sind eine sehr, sehr gute Grundausstattung. Dessen bin ich mir sicher.
Und die Telematik suspendiert unsere realen sozialen Begegnungen nicht. (Im Gegenteil!) Vielleicht wird es einmal anders sein und es muß dann alles umgeschrieben werden, was wir bisher unter “conditio humana” verstehen mochten. Vielleicht.
Dein “Platon ahoi!”, Walter, finde ich lustig. Gefällt mir. Und paßt auch irgendwie. Platon hatte von Sokrates noch die Mittel der oralen Kultur, den Dialog, in seine Texte gepackt. Sein Schüler Aristoteles ist dann schon ganz Meister des Wissens der Welt, wie es in Büchern festgeschrieben wurde. Ein großer Buchhalter. Und wie mir auffiel, offenbar der erste Wissenschaftler, der nicht mehr schrieb “Ich bin der Ansicht...”, sondern “Wir sehen das so und so.” Von genau diesem Groove, von dieser Art, sich als “wir” auszugehen und sich so als einen Teil einer kanonisierten Deutungselite zu legitimieren, waren die Jahrhunderte seit Platon geprägt. Das wird sich nun radikal ändern. Macht auch alles vorerst komplizierter.
Drum aber nicht “Platon ade!” Auf eine Art, die mir selber unerklärlich ist, lande ich in meiner Lektüre spätestens alle zwei Jahre wieder bei Platon. Und Sophokles. Beim Gastmahl und beim König Ödipus. (Ich kauf mir dazu die Büchlein immer wieder neu.) Diese Stoffe halten vor Augen, was von dauernder Wichtigkeit zu sein scheint: Reale Anwesenheit und anregende Gesellschaft. Das Begehren nach dem, was einem fern oder fremd ist. Leidenschaft. Daß es aber auch nicht immer so ernst ist. (Trunkenheit und Klugheit vertragen sich!) Daß man sich von ausgewiesenen Autoritäten nicht einschüchtern lassen muß. Und die alten Fürsten, die in ihren breiten Wagen daherkommen.... Schwamm drüber!


Dimitrijevic       Hi! Inzwischen ist es Mai geworden, ich war eben wieder im Serbenlande. Ich machte mich dieses Mal  mit einer in Österreich bekannten Zeitungs-Journalistin auf die Reise. Was mich doch erschütterte, war ihre Oberflächigkeit - in Serbien, sagt sie,   machten sie die Kleinigkeiten wahnsinnig, wie: warum man  in diesen Ländern die Toilettentür nicht zusperren kann. Irgendwann fiel ihr doch ein, daß ich von dort bin, also aus diesen Ländern komme, so sagte sie: „Ich hoffe, Sie damit nicht zu beleidigen."
Dann die Verwüstung auf dem Flughafen, die Journalistin wohnte natürlich im Intercont, das ist ihr Hotel. Das Wetter: Sommertemperaturen. Es war sehr viel los, die Straßen noch belebter als im Dezember. Die Fußgängerzone im Zentrum voll von Gastgärten, die Leute spazierten herum. Ganz toll. Damals  im Dezember fühlte ich mich noch irgendwie ein wenig verloren, doch diesmal war alles ganz normal für mich. Ich bin eigentlich immer dort, mußte ich mir sagen. Ich fuhr zu meinem Hotel in der Innenstadt, dort wurde mir gesagt, dass die österreichischen Autoren, über deren Belgradbesuch berichten soll, schon hier sind. Neugierig wie ich bin, hielt ich sofort Ausschau. Sie waren natürlich im Cafegarten vor dem Hotel. Man muß das verstehen. Sie sind das erste mal in der Stadt, kennen
sich nicht aus, sind müde von dem langen Flug, dann diese
ganzen Menschen, wo man nicht genau weiß, ob sie nun wirklich wieder gut geworden sind, nachdem sie eine neue Regierung wählten. Und diese unbekannte Sprache. Und überhaupt. Aber ganz positiv: die  billigen Cds, die man auf der Straße kaufen kann. Die sind ganz international, sagten sie mir.
Mein erster Arbeitstag in Belgrad: Bericht über eine zweisprachige Lesung "junger bekannter österreichischer Autoren "im Kulturzentrum Belgrad. Kleiner Raum, zu wenig Sesseln, keine Klimaanlage, ich ganz schrecklich müde. Muß ja auch noch das Seminar der UNESCO-Arbeitsgemeinschaft "Belgrad-wien: eine wissenschaftliche Nachbarschaft" besuchen. (War dann ganz bezaubernd. Die Diskussionsrunde mit österreichischen Professoren hatte nämlich nichts zu sagen. Ein österreichischer Professor meinte anschließend zu mir,  er müsse mich unbedingt in Wien treffen, um mit mir über Belgrad zu reden, "weil da muß sehr viel getan werden".
Bei dieser Lesung nun traten Katrin Röggla, Sabine Gruber, Marija Knezevic, Semier Insayif, Franzobel und Vladislav Bajac auf. Meine Cousine, die Studentin, von der ich schon berichtete,  war mit im Auditorium. Sie war ganz neugierig, österreichische Autoren zu erleben, zu hören, was die denken.  Nach der Lesung wurden die Dichter gefragt,  "welche Eindrücke die österreichischen Autoren von Belgrad haben" Keiner von ihnen kannte Belgrad, alle nur aus der Kindheit auf dem Weg nach Griechenland. Sladoled, Eis, war ein Wort, das sich eine Autorin merkte. Wie sie Belgrad aus den Medien kennen, was sie über den Krieg usw. wissen,  will keiner verraten. Dafür sind sie nicht zuständig. Franzobel findet Belgrad gut als Verlängerung seines Namens. Franzobelgrad,ha-ha, die Welt ein Sprachspiel.
Am zweiten Abend trat Robert Menasse auf, alle haben nur auf ihn gewartet, dann mußte er noch mit ein
paar Menschen aus der österreichischen Botschaft reden, man muß das verstehe, er hat einfach sehr viele wichtige Termine und sagte dann über seine ersten Eindrücke von Belgrad:"Es muß hier einen versteckten Jungbrunnen geben", worauf meine Cousine zu mir herüber flüsterte,
"klar, daß es keine alten Menschen auf Belgrads Straßen zu sehen gibt. Die Medikamente, die sie brauchen würden, um ihre Gelenke in Schwung zu bringen, können sie sich nicht leisten." Dragan Velikic, der serbische Autor, der auch auf dem Podium saß,  sagte zu Menasses Belgrad-Eindrücken: "Die alten Menschen in Belgrad sind nicht mutig. Man muß einfach mutig sein, um mit den öffentlichen Verkehr  in Belgrad zu fahren ...."
Ich habe brav meine Arbeit gemacht, für das Radio über die österreichischen Autoren berichtet  und ansonsten die Zeit mit meinen "zwei Kleinen", den Cousinen, verbracht. Am Sonntag dann war ich auf dem Weg zu "mir nach Hause“, im Bus   Richtung Mittelserbien. Neben mir saßen ein paar junge Soldaten, sehr frustiert, und ein paar  ältere Frauen, die auf Besuch bei ihren Kinder waren, "die in Belgrad brav studieren, obwohl es sehr schwer ist".
Ich steige aus dem Bus und es ist keiner da, nur einBusbahnhof, total verlassen (diesen Ort kenne ich natürlich aus meiner Kindheit ganz genau, es hat sich absolut nix geändert....) Ich fühle mich ganz seltsam, wenn ich das "nach Hause" schreibe.Es ist ja irgendwie nicht "nach Hause", und
 dann irgendwie doch. Ich war dann sehr lange bei meinen Großeltern im Haus, wollte irgendwie vermeiden, in "mein Haus" zu gehen, in das meiner Eltern, das einmal für mich bestimmt war. Ich besuchte Verwandte und Nachbarn, die mir wichtig sind. die meisten haben geweint, als sie mich sahen. Weiß nicht,  ob aus Freude oder Trauer. Sie sind alle so gealtert. Die meisten plötzlich zuckerkrank geworden,  die Zähne sind ihnen ausgefallen, sie sind mager und unglücklich. Meine
 Taufpaten - Flüchtlinge aus Sarajewo - wohnen in einer winzigen Wohnung und trauern Sarajewo nach. Dorthin können sie nicht zurück, da in  ihrem großen schönen Haus jemand anderer wohnt. Sie sind nicht nur zuckerkrank, sondern haben viele andere Krankheiten, Herzkrankheiten usw.....mein letzter Besuch galt   unserer Nachbarin,die auf mich aufpasste, als ich klein war. Da meine Eltern mit meinem kranken Bruder nach Wien mussten, war ich ja damals mehr oder weniger mit meiner Schwester alleine. Die Nachbarin kam  jeden Morgen zu uns, bürstete unseren langen Haare, kümmerte sich um uns. Auch sie is tplötzlich zuckerkrank geworden. Auch ihre Zähne sind ausgefallen. Auch ihr Herz ist krank, sagt sie. Dann,  "in meinem" Haus, ging in jedes Zimmer, griff alles an und setzte mich ein wenig auf die Terrasse. einfach so. Mir ging durch den Kopf, daß ich für mich schon lange beschlossen habe, in Wien zu bleiben... obwohl....
Dann holte mich meine Tante ab, das erste Mal kommen wir auf das Thema Nato-bomben auf
Jugoslawien zu sprechen. Sie hat drei Töchter, ihr jetziger Mann zwei. Alle studieren in verschiedenen Städten. Während der Bombadierungen waren sie alle in einer kleinen Wohnung, die Nachricht, dass die Nato-Flugzeuge gestartet sind, hatten sie von mir. Minuten später wurde in den Medien vom Start der Flugzeuge berichtet, ich rief meine Tante an,  die Kinder kamen so schnell wie möglich nach Hause. Die ersten Bombentage und -nächte verbrachten sie im Keller. Dann nicht mehr, die Kinder wurden krank, hohes Fieber. Meine Tante schau aus dem Fenster und sieht einen Feuerball direkt auf ihr Haus zukommen, es wird aber nicht das ihre, sondern ein anderes. So ging es 78 oder 79 Tage. Das Studium ging weiter, die Arbeit auch, die fünf Studentinen fuhren immer unter Lebensgefahr zu ihren Prüfungen. Sie sind gut über alles hinweggekommen....haben keine Zuckerkrankheit bekommen, ihre Zähne behalten. Ab und zu plagen sie Angstzustände und Panikattcken, aber sonst ist alles ganz ok. Dann kam   der Tag meiner Abreise. Meine Tante, ihr Mann und zwei von den fünf Töchtern begleiten mich nach Belgrad. Sie möchten, daß ich bei ihnen bleibe, ich auch, doch ich  habe ja beschlossen, in Wien zu bleiben ... "Wir telefonieren". Ich habe alle fünf nach Wien eingeladen, damit sie ein wenig
Normalität schnuppern können, keine Ahnung, ob das eine gute Idee war ... In Wien angekommen, las ich den Atikel der österreichischen Journalistin über ihre Belgradreise: 50 Autobusse für Belgrads Wiederaufbau: Eineinhalb Stunden zähen Kampfes habe es bedurft, bis die Hebevorrichtung am Belgrader Hafen den ersten von acht Autobussen aus dem Transportschiff gehievt hatte. Die roten
 Gelenkbusse sind ein Geschenk Wiens an Jugoslawien. Die Slogans: "Hauptstadt hilft Hauptstadt" und "Wien grüßt Belgrad". Insgesamt 50 Fahrzeuge umfasst das Paket des wohlhabenden Wien an das durch das Milosevic-Regime verarmte Belgrad ... und heute bekommen wir einen
Telefonanruf aus Serbien: Mamas Bruder ist gestern Abend nach Südserbien ins "Kriegsgebiet“ gefahren (geholt worden). Er ist Mediziner,  war auch während des Kosovokrieges unten. Für uns alle natürlich eine Katastrophe. Es reicht, reicht, reicht.


[1] Dragana Dimitrijevic   Mein Job ist es, Berichte, Reportagen und Beiträge für Radio "Donaudialog" und da speziell für die Sendeleiste "Wien International" zu recherchieren und moderieren. Geboren: 1972 in den "Schluchten des Balkan", früh nach Wien verschlagen... wo ich die gesamte schulische Laufbahn absolvierte (HBLA-Matura und anschließend Design-Kolleg- Abschluss). Dann ganz etwas anderes: Public Relations. Ziemlich spannend, doch nicht von langer Dauer. Danach Redakteurin bei der Sendeleiste "Urban Radio" bei Orange 94.0, dem freien Radio in Wien. Seit April 2000 Mitarbeit beim ORF.

 

[2] Martin Krusche Jahrgang 56, Autor, Impresario des kulturellen Terrains kultur.at. Krusche lebt und arbeitet in Gleisdorf (Oststeiermark).

Als Initiator der virtuellen akademie nitscha befaßt er sich seit den 80ern intensiv mit den neuen Medien. Das einschlägige Engagement setzt er heute durch die praxiszone kunstraum.gleidorf um.

Neben Aktivitäten im traditionellen Raum sind Krusches webgestützte Hauptprojekte momentan:
• [flame] (Ein trivialer Mythos)
"Eigenheiten ~ Fremdheiten" (Über Heimat. Eine Serie)
Gemeinsam mit Wolfram Bayer und Klaus Zeyringer
Heimat (Ein Container)
• [house] über das fremde & die peripherie
Ein Salon, gemeinsam mit Walter Grond und Klaus Zeyringer

 

[3] Wessam El-Ghayaty, geb. am 06.10.1976 in Kairo, studierte Germanistik und absolvierte 1998 von der Sprachenfakultät der Ain Shams-Universität in Kairo, wo sie jetzt auch als Assistentin an der deutschen Abteilung tätig ist, Referentin der Kultur- und Medienarbeit des Ägyptisch-Deutschen Kulturzentrums (ÄDK), unterrichtet Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Arabisch für Ausländer, studierte Übersetzerin und Dolmetscherin, schreibt im Moment eine Magisterarbeit zum Thema Literatur und Medien unter dem Titel “ Deutsche Literatur im Zeitalter elektronischer Medien.“ 

 

 

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